Politics | Europaforum

Das Ohr nah an Europa

Sprechen wir über die Zukunft Europas: Ein schwieriges Unterfangen, das am Freitag Abend beim Bürgerforum in Angriff genommen wurde.
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Foto: Salto.bz

Die Bürger ermutigen, über die Zukunft Europas nachzudenken: Das ist die Zielsetzung des Bürgerforums, einer Initiative des Europäischen Parlaments, mit der von Finnland bis Portugal, von Irland bis Zypern versucht wird, die viel beklagte Distanz zwischen den Brüsseler Institutionen und dem Volk zu verringern. Wer am Freitag Abend der Publikumsdiskussion im Bozner Landhaus beiwohnte, hatte aber zumindest streckenweise das Gefühl, dass sich die auf dem Podium sitzenden Politiker und Europaexperten selbst ermutigen mussten, weiterhin an die Zukunft der EU zu glauben. So schwierig war es seit Beginn des Integrationsprozesses noch nie, räumte Universitätsprofessor Walter Obwexer offen ein.  Als Grund dafür nannte er gleich fünf Baustellen, an denen in der Union mit ihren 28 Mitgliedsstaaten derzeit zu werkeln sei.

Da ist einmal das zunehmende Bröckeln der Rechtsunion, das sich laut Obwexer vor allem im Zuge der Migrationskrise deutlich zeige: Statt sich an die gemeinsamen Regeln zu halten, macht jeder Staat war er für richtig hält. Damit nicht genug. Auch der Grundsatz, dass die Union auf der Solidarität ihrer Mitgliedsstaaten beruhe, werde mit der Flüchtlingspolitik einzelner Mitglieder eindeutig verletzt. Der Brexit wiederum hat laut dem Europarechtsexperten vor Augen geführt, dass es der EU und ihren Mitgliedern offensichtlich nicht gelingt, ihren Bürgern wesentliche Inhalte des Integrationsprojekts zu vermitteln. Damit in Zusammenhang steht auch das Aufkommen immer mehr politischer Kräfte, die für die europäische Integration nichts übrig hätten und eine Rückkehr zu Nationalstaaten propagierten. Das Freitag Nacht doch noch gerettete Handelsabkommen der EU mit Kanada (CETA) haben wiederum vor Augen geführt, wie schwierig sich Brüssel tut, die auf die Fahnen geschriebene Transparenz und Bürgernähe tatsächlich zu leben.

Der Lokalmatador des Abends, Südtirols EU-Parlamentarier Herbert Dorfmann, verdeutlichte die tiefe Krise der europäischen Gemeinschaft anhand von ein paar Ausschnitten aus der jüngsten politische Chronik: das völlige Ausgeliefertsein Brüssels an das Erpressungspotential einer kleinen Region wie Wallonien beim Abschluss des CETA-Abkommens, das Referendum, das Ungarns Regierungschef Viktor Orban gegen die Mehrheitsentscheidung  des EU-Parlaments und EU-Rats in Gang setzte,  aber auch die deutliche Botschaften von Italiens Premier Matteo Renzi zum EU-Stabilitätspakt, wie seine Ankündigung einen möglichen blauen Brief aus Brüssel in den Papierkorb werfen zu wollen. „Da geht es nicht mehr um ein institutionelles, sondern um ein grundsätzliches Problem“, meinte der EU-Parlamentarier. Bisher sei es common sense  der europäischen Integration gewesen, sich nicht auf dem Rücken der EU national zu profilieren. „Heute dagegen tut man genau das“, so Herbert Dorfmann. Die wichtigste politische Aufgabe in dieser neuen Zeit der Nationalismen sei es deshalb, das Bedürfnis der Menschen nach Heimat, Geborgenheit und Sicherheit mit der Bereitschaft zu kombinieren, in einer größeren Gemeinschaft zusammenzuarbeiten und sich vernetzt gegenüber der Welt zu öffnen.

Denn so kritisch die Situation auch sei – eine Zukunft ohne einander ist für den langjährigen österreichischen Europaparlamentarier  Othmar Karas undenkbar. Sollen 28 Länder ein Einzelhandelsabkommen abschließen? Soll jedes Land Europas die Flüchtlingsfrage oder die Finanz- und Währungskrise alleine lösen, indem es macht, was es will, fragte er. Eine seiner Antworten darauf: „Es darf keine Maurern, keinen Stacheldraht oder künstlich errichtete Grenzen mehr geben, wir müssen Fragen gemeinsam lösen, nicht indem sich einer vor dem anderen schützt.“

"Überall wo die Gemeinschaft rechtlich schwächer ist als das nationale Interesse und wir die Einstimmigkeit brauchen, siegt im Moment der nationale Egoismus über die gesamteuropäische Verantwortung."

Die Zukunft Europas hängt von seinen Bürgerinnen und Bürgern ab, waren sich die Europa-Experten einig. „Wir entscheiden, welches Europa wir wollen.“  In welche Richtung es dabei geht, wird nun auch wesentlich von der Flüchtlingskrise abhängen, ging klar aus ihren Statements hervor. Seit ihren Anfängen sei die Union durch Ereignisse zusammengewachsen, die einen Akt der Solidarität beinhalteten. „Nun habe ich den Eindruck, das es das erste Mal sein kann, dass ein Ereignis, das nach mehr Miteinander schreit, nicht zu einer Weiterentwicklung, sondern einer Schwächung führt“, sagt Karas unter Verweis auf den wachsenden Populismus und Nationalismus in vielen Mitgliedsstaaten. „Wenn es nicht gelingt, die  Migrationsherausforderung innerhalb der kommenden eineinhalb bis zwei Jahre nach dem Grundsatz der Solidarität zu lösen, bewegt sich die Europäische Union wirklich an den Rand des Abgrunds“, prophezeihte auch Walter Obwexer. Nicht zuletzt weil 2019 die nächste Europawahl ansteht. Und die EU tatsächlich ein völlig anderes Gesicht bekommen könnte, wenn populistischen und nationalisitischen Strömungen bis dahin nicht Einhalt geboten werde. 

Als Ausweg wurde in der Diskussion mit der Bevölkerung einerseits eine Einschränkung der Flüchtlingsströme auf den Tisch gebracht. „Es muss uns gelingen, möglichst früh zu entscheiden, wer zu uns kommt, weil er Recht auf Schutz hat, und wer dagegen  aus wirtschaftlicher Notwendigkeit kommen will“, sagte Herbert Dorfmann. Den sogenannten Wirtschaftsflüchtlingen sei deshalb nicht generell der Zugang zu Europa zu versperren. „Doch wer kommen will, weil er besser leben will, muss dies über eine  anderen Schiene tun und kann nicht als getarnter Flüchtling kommen“, so Dorfmann. Noch viel wichtiger ist laut Othmar Karas aber auch an der Verbindlichkeit der Solidarität zu arbeiten. In zu vielen Bereichen beruhe der europäische Solidaritätsgedanke bislang noch auf Freiwilligkeit. „Hier fehlt uns die Rechtsgrundlage zur Handlungsfähigkeit der EU“, sagte der österreichische EU-Parlamentarier.

Das gelte jedoch nicht nur in der Flüchtlingsfrage. „Überall dort, wo wir ein Gemeinschaftsrecht haben, funktioniert die EU“, sagt Karas. Wo es dagegen keine verbindlichen gemeinschaftlichen  Regeln gäbe und europäische Herausforderungen bestehen, sei die Handlungsfähigkeit der EU beeinträchtigt – ob beim Kampf gegen Steuerhinterziehung, dem Verteilungsschlüssel oder dem Schutz der Außengrenze. Auch weil dort die Einstimmigkeit der Mitgliedsstaaten erforderlich sei. „Überall wo die Gemeinschaft auch rechtlich schwächer ist als das nationale Interesse und wir die Einstimmigkeit brauchen, siegt im Moment der nationale Egoismus über die gesamteuropäische Verantwortung“, meinte der Europaparlamentarier. Einer der Schritte für eine bessere Zukunft Europas könne deshalb nur in einer Stärkung ihrer Kompetenzen und Zuständigkeiten liegen, waren sich die Europa-Botschafter an diesem Abend einig. Denn, wie es Othmar Karas auf den Punkt brachte: „Europa-Politik muss zur Innenpolitik werden –  damit das eine nicht gegen das andere ausgespielt werden kann.“