Cinema | Kino

Militarismus, Militanz, Mitgefühl

Zum zweiten Mal lädt die Gesellschaft für bedrohte Völker zu zwei Tagen des kurdischen Kinos in Bozen. Ein Filmabend war gestern, der andere findet morgen Abend statt.
„Lettere da Shengal“
Foto: Dersim Zerevan
  • Hätten Sie es gewusst? Den vielen leeren Stühlen nach zu urteilen wohl nicht. Auch eine Veranstaltung, die wohl eher nicht für touristisches Publikum interessant wäre, um 18 Uhr anzusetzen, ist zumindest diskutabel. Auch für acht Augen wurden drei Filme gestern in der Bibliothek „Kulturen der Welt in der Welt“ vorgeführt und ein Ausblick auf das geboten, was morgen ab 18 Uhr am Plan stehen wird.

    Den Anfang machen wir mit einer rund 40-minütigen Dokumentation aus Kobane, die in Originalsprache mit italienischen Untertiteln vorgeführt wird. „Tevî Her Tiştî - Malgrado tutto“ (2021) zeigt uns die Geschichte der ersten kurdischen Bibliothek der Stadt im Zuge eines allgemeinen und wiederholten Aufbaus durch die Zivilbevölkerung. Ist die Bibliothek gemessen an westlichen Standards sicherlich nicht die beeindruckendste, so unterstreicht der Film in zahlreichen Stellungnahmen doch eindrucksvoll deren Bedeutung auf lokaler Ebene. Im Erdgeschoss ihres Familienhauses wollte das junge Paar Rodi Hesen und Perwin Hemo eine Bibliothek einrichten, als ihm nach 20 Tagen Ehe, fünf Monate nach der Befreiung der Stadt im Juni 2015 bei einer Attacke der verbleibenden IS-Kräfte das Leben genommen wurde. Gesicherte Opferzahlen sind keine vorliegend, seitens des Veranstalters ist von 388 Toten die Rede. In eben jenem Haus, in welchem sich später die Bibliothek finden sollte, wurden Rodi und Perwin ermordet. Die überlebenden Geschwister Rodis, Ednan und seine Schwestern Cihan und Berivan nahmen die Aufgabe auf sich, den Traum der Verstorbenen zu realisieren. Den ideellen Wert einer Bibliothek verdeutlicht indes auch die Regisseurin des Films, Sherwan Bilal Youssef, die an der Universität von Aleppo ein Literaturstudium abgeschlossen hat und selbst vor die Kamera tritt. So öffnen sich die Türen zum Haus der gastfreundlichen Familie wieder und bieten einen Ort der Erinnerung, Identität und bei der Vertiefung in Bücher der eigenen Muttersprache, vielleicht etwas flüchtigen Frieden zu stiften vermag.

  • Kurdisches Kino: Plakat und Festival setzen auf einen jungen und weiblichen Blick auf den Krieg. Wer meint, dieser sei damit weniger kämpferisch, der irrt. Foto: Gesellschaft für bedrohte Völker
  • Briefe von vielen Fronten

    Der mit Abstand am schwersten zu verdauende Film des Abends sollte der zweite sein. Italienisch nachsynchronisiert ist Dersim Zerevans „Lettere da Shengal“ (2022) eine filmische Nacherzählung aus mehreren Blickwinkeln, die in 80 Minuten auf Briefen aufbauendes Faktisches und Fiktionales Erzählen vermischt, in dramatischem Schwarzweiß mit einigen Farbtupfern. Die Regisseurin, die an der Literaturschule damit begann, Gedichte und Memoiren von PKK Kämpfern zu sammeln und beim Guerillaregisseur Halil Dag ihr Handwerk studierte, konfrontiert das Publikum in verschiedenen Etappen, die miteinander verwoben werden mit der 2014 erfolgten Invasion von Shengal, der inoffiziellen Hauptstadt der jesidisch-kurdischen Minderheit. Aus empathischen zivilen und heroisch widerständigen Perspektiven sehen wir einen Film, der nicht nur wegen seines Inhalts verstörend ist, sondern auch durch die wie Action-Sequenzen angelegten Kampfhandlungen, welche nachgestellt wurden. Die gewaltfrei lebende Minderheit der Jesiden, von denen allein 2014 5000 ermordet und 7000 Frauen und Kinder verschleppt wurden, trifft auf die harte Realität des Krieges, und eine patriarchal geprägte Kultur sieht sich zwangsweise im Wandel. Der Blick der Regisseurin ist wie die Mehrheit der eingefangenen Stimmen weiblich, es werden Märtyrer:innen und der moderne Feminismus gelobt, der auch Frauen gegen die Terroristen in den Kampf ziehen lässt. Einen IS-Kämpfer, der sein Leben im Kampf verliert, erwarten 72 Jungfrauen im Paradies, so glauben die Terroristen. Stirbt ein Kämpfer durch die Hand einer Frau, so sei die Aussicht auf diese Belohnung verwirkt, was Frauen auf dem Schlachtfeld zu gefürchteten Kämpferinnen mache, heißt es im Film. Es wird wohl auch mit der eigenen Motivation zu kämpfen zu tun haben, die unter den Partisaninnen sicherlich ausgesprochen stark ist.

    Der Film erfüllt dabei wohl nicht einen juristischen Tatbestand der „Propaganda“, wohl aber einen etymologischen, als „mehr oder weniger systematisches Beeinflussen des Glaubens, der Ansichten oder Handlungen anderer Personen“. Dabei soll an dieser Stelle nicht eine Unterstellung von Unwahrheit erfolgen, da es um die Form der Kommunikation und nicht um deren Inhalt geht. Immer wieder hören wir das Lob auf den Widerstand und auch, dass einer trauernden Mutter nach dem Tod ihrer Tochter nicht Beileid sondern Gratulationen ausgesprochen werden, ist nicht einfach zu hören. Aus bequemer Mitteleuropäischer Sicht möchte man glauben, dass es Alternativen zu selbst töten oder getötet werden gibt. Aus Sicht von Partisanen und Jesiden ist es ein Kampf ums Überleben, was erklärt, warum sich der Film an manchen Stellen wie ein Rekrutierungsaufruf anhört. Der Film zeigt keinen einfachen Ausweg auf und an Verhandlungen zwischen Jesiden und Islamischem Staat, für den die Minderheit als „Teufelsanbeter“ gelten, ist nicht zu denken. Schwer vorzustellen, wie man selbst in dieser Situation handeln würde. Man darf sich ob des eigenen Privilegs in Frieden leben zu dürfen glücklich schätzen.

  • Traumbilder und Aussichten

    Den Abschluss des Abends machte „Convoglio“, ein 5-minütiger Animationsfilm, der mit einfachen Mitteln, aufbauend einer horizontalen Kamerafahrt entlang einer Wandmalerei, Flucht begreifbar machen will. Begleitet werden die Bilder einer Karawane sowohl von einfachen Effekten und Kriegsgeräuschen, als auch überlappenden Stimmen und Musik. Es entsteht eine Kakophonie welche dem Chaos des Flüchtlingskonvois eher gerecht wird als eine Abfolge von Standbildern. Es handelt sich um die ursprünglichen Bewohner Afrins im Norden Syriens, die im März 2018 im Zuge einer Besetzung durch türkische Streitkräfte die Flucht über den Berg Lilun, dessen Namen übersetzt „Traum“ bedeutet, wagten. Die Stadt ist bis heute unter türkischer Besetzung. Die (alp)traumhaften, jedenfalls durch ihre Ästhetik leichter anzusehenden Bilder verdanken wir dem Regisseur Muhyiddin Arslan, der wie Sherwan Bilal Youssef aus Afrin stammt und Mitbegründer der jungen Filmbewegung aus Afrin ist und Organisator des Internationalen Filmfestivals Lilun in Shehba.

    Am Donnerstag um 18 Uhr kann man sich wieder mit Filmen, Perspektiven und einem Konflikt abseits der medialen Hauptaufmerksamkeit konfrontieren. Neben „Dopo la Guerra“ (von Zilan Hemo, 2019, Dauer: 6′) und „L’Amore al tempo del genocidio“ (von Sêro Hindî, 2022, Dauer: 52’) steht auch „Berbu“ der jungen Regisseurin Sevinaz Evdike auf dem Programm. Der Debüt-Spielfilm hat den Hauptpreis des Olhares do Mediterrâneo – Women's Film Festival in Portugal gewonnen. Er erzählt die Geschichte dreier Frauen, die kurz vor der Hochzeit von einem bevorstehenden Angriff auf ihre Stadt erfahren und eine folgenschwere Entscheidung zu treffen haben. Hier der Trailer in Originalsprache, englische Untertitel lassen sich dafür auf YouTube aktivieren. Film ab.

  • (c) Komîna Fîlm a Rojava, YouTube