Politics | Sackgasse als Ausweg?

Renzis "Migration Compact"

Beim Urteil über Renzi scheint es nur die Wahl zwischen absoluter Ablehnung und absoluter Zustimmung zu geben. Und wenn die Wahrheit ein wenig ambivalenter ist?
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Am Mittwoch vor einer Woche gab es in Rom ein Großereignis: Das Außenministerium hatte 50 Delegationen aus Afrika zu einer Konferenz eingeladen. Als Staatspräsident Mattarella die Eröffnungsrede hielt, hörten ihm Repräsentanten der Afrikanischen Union und viele afrikanische Außenminister zu. Angesichts der Tragödien im Mittelmeer sei es erste Pflicht, „Menschenleben zu retten“. Dabei bilde Italien die „Brücke“ zum afrikanischen Kontinent, mit dem es zur „pragmatischen und offenen Begegnung bereit“ sei, unter Beachtung der „jeweiligen Besonderheit unserer Gesprächspartner“. Mit den früheren (kolonialen) Bestrebungen nach Hegemonie habe das nichts mehr zu tun, sondern mit der „Sehnsucht nach einer Zukunft, in der Afrika nicht, wie einige demagogische Stimmen behaupten, als große Gefahr, sondern als große Chance betrachtet wird“.


Chancen der Kooperation

Als Chance wofür, als Chance für wen? Die Diskussion auf der Konferenz wurde so geführt, als ob es sich um die klassische Entwicklungskooperation handelt, wo die eine Seite mehr und klüger investieren muss, damit die andere Seite wirtschaftlich aufblüht, zum beiderseitigen Nutzen. In diesem Sinne las die Kommissionsvorsitzende der Afrikanischen Union, Nkosazana Dlamini-Zuma, auch gleich Italien – und Europa – die Leviten: „Schluss mit dem ewigen Gerede von Dialog, Dialog, Dialog. Jetzt muss gehandelt werden. Afrika braucht Investitionen in die Landwirtschaft, in die Infrastruktur, in Energie, in die extrahierende Industrie, denn es hat ein wachsende junge Bevölkerung, die ausgebildet werden muss“. Hier hinke Europa den anderen Konkurrenten – China! – deutlich hinterher. Um nebenbei den Punkt anzusprechen, der den europäischen Nerv trifft: „Wenn wir nicht in die Entwicklung und Schaffung von Arbeitsplätzen investieren, können wir den Frieden nicht erhalten“. Die zuhörenden Europäer wussten, was das bedeuten würde: Die Massenflucht Richtung Europa würde sich verstärken. Was auch Mattarella ansprach, aber in das afrikanische Eigeninteresse verpackt: „Die heutige Massenemigration ist für den afrikanischen Kontinent die schlimmstmögliche Vergeudung von Zukunft“.

Dann verkündete Außenminister Gentiloni, dass Italien „einen umfassenden operativen Plan für Afrika“ habe, über den man noch Ende Juni im Europarat sprechen werde, „mit bald beginnenden Pilotprojekten“. Bevor es zu „Notsituationen kommt, die niemand ausschließen kann“, müsse man eine „Strategie“ haben, die auch die „Menschenwürde schützt“.


Eine italienische Initiative

Schon Mitte April hatte Renzi in einem Brief an die Präsidenten der Kommission und des Europarats die Grundzüge eines Migrationsabkommens mit den afrikanischen Ländern skizziert, aus denen die Menschen flüchten („Herkunftsländer“) bzw. die sie auf ihrer Flucht nach Europa durchqueren („Transitländer“). Die Grundidee sei es, den Partnerländern ein Angebot zu finanzieller und operativer Hilfe vorzulegen, für das sie als Gegenleistung „präzise Verpflichtungen zur effektiven Kontrolle der Grenzen, Eindämmung der Migrantenströme, Zusammenarbeit bei den Rückführung/Wiederaufnahme der Flüchtlinge“ eingehen müssten. Ein etwas anderer Zungenschlag als auf der Konferenz, wo vor allem von Entwicklungskooperation gesprochen wurde, aber weniger von diesen Bedingungen.

Anfang Mai konkretisierte die italienische Regierung den Vorschlag in einem weiteren nach Brüssel geschickten Dokument. Da schnelles Handeln erforderlich sei, solle Europa zunächst „die Priorität einigen strategischen afrikanischen Partnerstaaten geben“: Algerien, Ägypten, Eritrea, Äthiopien, Elfenbeinküste, Gambia, Ghana, Guinea, Libyen, Mali, Marokko, Niger, Nigeria, Senegal, Somalia, Sudan und Tunesien (eine Liste ohne Berührungsängste, die nebenbei erklärt, warum Gentiloni nach dem Regeni-Mord Ägypten weiterhin einen „strategischen Partner“ nennen wollte). Schon in seiner Sitzung am 28./29. Juni solle der Europarat beschließen, innerhalb von 14 Tagen einen „außerordentlichen Plan“ auf den Weg zu bringen, der erst einmal Abkommen mit 7 „Pilotländern“ vorsieht: mit den 4 Herkunftsländern Elfenbeinküste, Ghana, Nigeria und Senegal, den zwei Transitländern Niger und Sudan, und mit Äthiopien, das Herkunfts- und Transitland zugleich ist. Mit jedem dieser 7 Länder solle ein „maßgeschneidertes“ Abkommen getroffen werden, das Investitionen in sozial wichtige Projekte und Infrastrukturen und Kooperation auf dem Gebiet der Sicherheit und der legalen Migration vorsehe. In Verbindung mit den bereits erwähnten „präzisen Verpflichtungen“ zur Eindämmung der Flüchtlingsströme.


Ungeklärte Finanzierung

Die europäische Kommission signalisierte ihr Okay, nachdem am 19. Mai die Außenminister Deutschlands, Frankreichs und Hollands gegenüber Brüssel dokumentiert hatten, dass sie den Renzi-Plan ebenfalls unterstützen. Nun zahlte es sich aus, dass die Außenbeauftragte der Kommission Federica Mogherini ist, die Renzi auf diesen Posten gehievt hatte und mit der er sich jetzt die Bälle zuspielen kann. Allerdings ist noch die Finanzierungsfrage ungeklärt: Den Vorschlag Italiens, das Projekt u. a. mit Eurobonds zu finanzieren, lehnte Deutschland ab, den Gegenvorschlag eines Aufschlags auf die Benzinsteuer lehnte wiederum Italien ab. In der Kommission scheint man zu überlegen, aus dem gemeinsamen Haushalt der EU 4,5 Mrd. bereitzustellen, die als „Hebel“ dafür dienen sollen, um zusammen mit zusätzlichen privaten und öffentlichen Investitionen auf eine Gesamtsumme von 60 Mrd. zu kommen. Ob sich die Ende Juni im Europarat versammelten Regierungschefs dazu durchringen, diesem Plan zuzustimmen, steht noch in den Sternen. Der Wille zu gemeinsamem politischem Handeln ist ja, wie sich zuletzt zeigte, nicht groß.


Vorsicht, Pervertierungsgefahr!

Dass sich Italien, mit ihm Deutschland und vermutlich ganz Europa von dem Projekt vor allem eine Eindämmung der Flüchtlingsströme erhofft, spricht nicht von vornherein dagegen. Denn wenn es tatsächlich dazu führen würde, dass sich die Lebensbedingungen in den afrikanischen Staaten verbessern, würde sich dort sicherlich auch der Emigrationswille reduzieren. Es würde zeigen, dass der vielbeschworene Ansatz an den „Fluchtursachen“ möglich ist. Dies kann allerdings nur unter zwei starken Bedingungen funktionieren: Wenn sich erstens in vielen dieser Länder die politischen und sozialen Verhältnisse – beginnend mit Unterdrückung und Korruption – tatsächlich ändern. Und wenn zweitens die europäische Seite nicht der Versuchung erliegt, sich auch mit der Pervertierung des Projekts zufrieden zu geben, die so aussehen könnte: Die afrikanischen Unterdrücker-Regimes ändern nichts an den bei ihnen herrschenden Zuständen, aber machen ihre Länder mit europäischem Geld und Know-How ausbruchssicher.

Ist das Schwarzmalerei? Europa will sich die Flüchtlinge vom Leib halten – das gerade mit der Türkei geschlossene Abkommen zeigt, wie groß die Versuchung ist, sich in die Komplizenschaft verbrecherischer Regimes zu begeben, wenn die Politik nur noch diese Priorität kennt. Renzis heutiger Vorschlag könnte die Falle vermeiden. Er könnte aber auch in die gleiche Sackgasse führen. Denn immerhin hat er einen Vorgänger, der schon im November 2014, ebenfalls in Rom, aus der Taufe gehoben wurde: den sog. „Khartum-Prozess“, der sich dem Eindämmungsziel in nackter Brutalität verschrieb: Hilfe für die Unterdrücker-Staaten, ihre Länder in ausbruchssichere Gefängnisse zu verwandeln. Auch damals waren Italien und Deutschland dabei, mit den gleichen Akteuren, die heute den „migration compact“ betreiben: Mogherini, De Maizière und leider auch Steinmeier. Auch diesmal soll der Sudan wieder zu den „Pilotländern“ gehören. Man wird sehr darauf achten müssen, welche Vereinbarung mit ihm beispielsweise in Sachen „Rückführung“ getroffen wird. Denn immerhin hatte Gentiloni verkündet, der „migration compact“ werde diesmal die „Menschenwürde schützen“.