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Game of Thrones in Brüssel?

Mehr als die Hälfte aller EU-Bürger, so viele wie seit 20 Jahren nicht mehr, wählten am vergangenen Wochenende das EU-Parlament. Beginnt eine neue Ära in Brüssel?
EU
Foto: Pixabay

Die Würfel sind gefallen, die Ergebnisse der EU-Parlamentswahlen stehen seit einigen Tagen fest. Jetzt beginnt aber erst das eigentliche Game of Thrones in der EU Zentrale Brüssel. Es geht um die Verteilung der Spitzenposten, um die Bildung von Koalitionen und um die Glaubwürdigkeit gegenüber den EU-Bürgerinnen und Bürgern. Die kommenden Wochen und Monate dürften spannend werden. Denn viele bezeichneten diese Wahl als entscheidend für die Zukunft der EU, den Wahlkampf als den „europäischsten“ in der Geschichte der Union und die Wahlbeteiligung als die höchste der letzten 20 Jahre.

Piret Ehin, Expertin für Wahlverhalten und Europäische Integration, sowie "Senior Researcher" an der Universität Tartu in Estland, gibt im Interview (das Interview wurde auf Englisch geführt und von der Autorin übersetzt) einen Ausblick auf die kommende Zeit und was wir demnächst aus Brüssel erwarten dürfen...

 

Der gefürchtete Schwarze Tsunami blieb aus, denn die euroskeptischen und rechtspopulistischen Parteien erhielten bei den diesjährigen EU-Wahlen nicht den erwarteten Zuspruch. Dennoch gehen sie gestärkt ins europäische Parlament. Was muss die EU nun tun, um ihre Legitimität aufrechtzuerhalten und ein ähnliches Risiko erstarkter Anti-EU Kräfte für die nächsten Wahlen zu vermeiden?

Piret Ehin: Zwei Drittel der Abgeordneten sind Pro-Europäisch, das stimmt. Auch der Stimmenverlust der traditionellen Parteien, der europäischen Sozialdemokraten und Christdemokraten, führte nicht automatisch zu einem großen Zuwachs euroskeptischer und rechtspopulistischer Parteien, sondern viele Stimmen gingen auch an neue europafreundliche Parteien wie etwa die Liberalen oder Grünen. Ich möchte aber betonen, dass die Anwesenheit euroskeptischer Parteien nicht unbedingt etwas Schlechtes sein muss. Das wichtige ist, dass das europäische Parlament ein starkes Mandat hat, um die europäische Integration zu gestalten. Dazu gehören viele Entscheidungen, etwa: wie soll die Zukunft der EU aussehen, wie weit soll die Integration fortschreiten, sollen wir zielstrebig nach mehr Vereinheitlichung drängen oder eher einen Schritt zurück gehen. Und diese Entscheidungen können nicht von Technokraten getroffen werden, denn niemand hat die perfekte Antwort. Am Ende sollten die EU Bürger darüber entscheiden. Daher ist es wichtig, verschiedenen Ansichten im Parlament vertreten zu haben. Wie konstruktiv diese neuen Kräfte sein werden, das wird sich dann zeigen.

2019 wird ein Jahr der institutionellen Erneuerung. Das zweite große Thema wird der Brexit sein.

Das wird wohl auch davon abhängen, ob sie in der Lage sein werden, eine Fraktion zu formen. Glauben Sie, diese Kräfte haben genug Gemeinsamkeiten, um eine Koalition einzugehen?

Das ist die nächste Phase, genau. Man sollte dabei nicht vergessen, dass diese Parteigruppen im Parlament sehr wechselhafte Entitäten darstellen. Es bedarf 25 Abgeordnete aus mindestens sieben verschiedenen Mitgliedsstaaten, um eine solche Gruppierung zu formieren. Diese müssen natürlich eine bestimmte Affinität zueinander spüren. Und das ist natürlich die große Frage bei den Anti-EU Kräften. Es wird sicherlich schwer sein, denn unter den Euroskeptikern herrschen große Differenzen. Eines der umstrittenen Themen ist Russland. Euroskeptiker aus den nordischen und östlichen Ländern sind viel Vorsichtiger in ihrem Umgang mit dem Nachbarland und sind eher gegen eine Annäherung an Moskau. Sie sind auch gegen die Auflösung der Sanktionen, ganz im Gegenteil zu rechtspopulistischen Parteien in anderen Ländern. Daher wäre ich nicht allzu beunruhigt über diese neuen Kräfte im Parlament. Außerdem zeigen Umfragen, etwa des Eurobarometers, dass die Unterstützung für die EU unter den Bürgern wächst. Das hat sicherlich auch die hohe Wahlbeteiligung gezeigt. Diese Entwicklungen geben dem europäischen Parlament einen ordentlichen Legitimitätsschub, zum ersten Mal seit 20 Jahren.

Einer der Kritikpunkte liegt aber genau beim europäischen Parlament. Es wird beklagt, dieses Organ hätte nicht genug legislative Kompetenzen, denn das Parlament kann keine eigenen Gesetzesinitiativen einbringen. Diese Kompetenz liegt noch in der Kommission. Können wir in der kommenden Legislaturperiode also mit institutionellen Veränderungen rechnen?

Ich denke eher nicht in den nächsten fünf Jahren. Die Zuständigkeiten des Parlaments sind aber bereits erheblich gewachsen. Daher ist diese Kritik, das Parlament habe nicht genug Macht, irgendwie veraltet. Insbesondere der Lissaboner Vertrag gab dem Parlament neue Befugnisse, und heute ist es ein sehr starkes Legislativorgan. Gemeinsam mit dem Rat der EU entscheidet das Parlament nämlich, welche Initiativen der Kommission umgesetzt und zu Gesetzen gemacht werden. Außerdem können sie Abänderungen miteinbringen und die Kommission dazu einladen, bestimmte Initiativen zu initiieren. Somit widerspiegeln diese beiden Organe die zwei Kammern nationaler Parlamente, wobei der Rat, der aus nationalen Ministern besteht, das „Oberhaus“ oder den „Senat“ repräsentiert, das europäische Parlament hingegen die „Abgeordnetenkammer“ oder das „Unterhaus“. Dennoch gibt es zwei große Fragen, die in Bezug auf die Legitimität bis heute gestellt werden: Hat das Parlament ein ausreichendes Mandat und sind seine Befugnisse stark genug? Zum ersten Thema haben die letzten EU Wahlen auf jeden Fall eine bejahende Antwort gegeben. Zum zweiten Aspekt finde ich, diese Koordination zwischen Kommission und Parlament, die wir zurzeit haben, hat der EU viele Vorteile gebracht. Außerdem wurde der Gesetzgebungsprozess in den letzten Jahren sehr viel effizienter, denn immer mehr Gesetzesentwürfe werden bereits in der ersten Lesung genehmigt und allgemein wurde das Verfahren beschleunigt. Das haben wir auch dem neuen System der sogenannten „trilouges“ zu verdanken. Wenn das Parlament und der Rat sich über einen Entwurf uneinig sind, können sie sich in einem kleineren, effizienteren Format, bestehend aus den zwei Repräsentanten des Parlaments und des Rats und dem Präsidenten der Kommission, treffen, um einen Kompromiss zu finden.

Es gibt zwei große Fragen, die in Bezug auf die Legitimität des EU-Parlaments bis heute gestellt werden: Hat es ein ausreichendes Mandat und sind seine Befugnisse stark genug?

Der nächste Schritt wird die Wahl des neuen Kommissionspräsidenten sein. Auch in diesem Bereich hat das EU-Parlament an Macht dazugewonnen. Seit 2014 herrscht das sogenannte System der „Spitzenkandidaten.“ Dabei stellt jede Fraktion einen Spitzenkandidaten auf, der nicht mehr, wie früher, hinter verschlossenen Türen vom EU-Rat bestimmt wird, sondern von den Staats- und Regierungschefs zwar vorgeschlagen wird, der aber vom Parlament und Rat abgesegnet werden muss. Die Wahl von Junckers Nachfolger scheint zurzeit ein sehr kontroverses Thema zu sein, warum?

Das Spitzenkandidaten-system wurde im Lissaboner Vertrag festgelegt. Darin steht, dass der Kommissionpräsident vom europäischen Rat vorgeschlagen wird, dieser jedoch die Ergebnisse der Parlamentswahlen berücksichtigen muss. Und genau dieser Satz ist sehr kontrovers, und offen für Interpretation. Denn was genau heißt das? Einerseits macht dieses Verfahren die EU demokratischer, denn es stärkt die Verbindung zwischen der Exekutivmacht, also der Kommission, und dem Parlament. So sollte es ja auch in einer parlamentarischen Demokratie sein. Andererseits löst es Debatten aus, ob wir auch auf der europäischen Ebene diese Art der Demokratie wollen. Jene, die einen Ansatz befürworten, der stärker auf Nationalstaaten ausgerichtet ist, sind eher gegen dieses System. Das Parlament ist eher für die Logik der Spitzenkandidaten, der europäische Rat hingegen ist etwas vorsichtiger. Und auch unter den Chefs der einzelnen Länder gibt es Unstimmigkeiten. Vor einigen Tagen gab es ein Treffen der Staats-und Regierungschefs, wobei der Präsident Donald Tusk sehr starke Statements abgab. Er verkündete, dass der europäische Rat sich nicht an das System gebunden fühle, sondern den angemessensten Kandidaten wählen würde. Auf der anderen Seite gibt es auch Widerstand von bestimmten Abgeordneten, etwa aus dem liberalen Lager. Ein weiteres Problem ist die Wechselhaftigkeit der parlamentarischen Gruppen.

Mit Blick auf die diesjährigen Wahlergebnisse, wer würde also, der Logik des Spitzenkandidaten nach, das Parlament am besten repräsentieren? Die stärkste Fraktion bleibt immer noch die EPP, also die europäischen Christdemokraten. Demnach müsste Manfred Weber zum Nachfolger Junckers gewählt werden. Andererseits verlor die Partei auch viele Stimmen, während ALDE und die Grünen einen starken Aufschwung erhielten. Käme also auch die Spitzenkandidatin Margarethe Vestager von der liberalen ALDE Gruppe in Frage? Oder ist es gar möglich, dass keiner der Spitzenkandidaten zu Junckers Nachfolger wird, und stattdessen ein häufig genannter Name: Michael Barnier, der Brexit-Beauftragte der Kommission?

Das ist die große Frage. Ich will hier aber keine mutmaßlichen Voraussagen machen, denn ich besitze leider keine Kristallkugel. Jene, die für das Spitzenkandidaten System sind, sagen, Manfred Weber sollte der neue Kommissionspräsident werden. Aber man sollte die Aussage Donald Tusks nicht vergessen, und daher gibt es eine beachtliche Chance, dass der europäische Rat sich tatsächlich nicht zu sehr an das System der Spitzenkandidaten halten wird.

Unter den Euroskeptikern herrschen große Differenzen.

Das heißt wir werden in der kommenden Zeit eine Art Machtkampf à la Game of Thrones in Brüssel erleben?

Im Laufe des kommenden Jahres wird der europäische Rat eine große Anzahl an Positionen vergeben müssen, nicht nur die des Kommissionspräsidenten. Auch der Präsident des europäischen Rats, sowie der Europäischen Zentralbank, und des Parlaments müssen besetzt werden. Man kann davon ausgehen, dass es eine Art „Paket-Abkommen“ geben wird. Man wird also versuchen, einen Interessenausgleich über die unterschiedlichen Positionen hinweg zu finden. Dabei müssen verschiedene Aspekte berücksichtigt werden, etwa die Wahlergebnisse, die Machtverteilung der einzelnen Parlamentsgruppen, die Repräsentation der Länder besonders zwischen den „neuen“ und „alten“ Mitgliedern, den Ausgleich der Geschlechter usw. Es wird also ein sehr langer und schwieriger Weg zum Kompromiss. Ich denke, die nächsten sechs Monate wird die EU mit der Besetzung dieser Posten beschäftigt sein. Zwar braucht der europäische Rat nur eine qualitative Mehrheit, also keine Einstimmigkeit, für die Besetzung der Posten, dennoch ist ein Kompromiss sehr wünschenswert, um eine Spaltung der EU zu vermeiden. Wir dürfen nicht vergessen, dass die EU ein hybrides und sehr komplexes System ist, das hauptsächlich von Nationalstaaten bestimmt wird. Aber natürlich muss nun, mit dem neuen System der Spitzenkandidaten der Wille des Parlaments stärker berücksichtigt werden, auch um dem Vorwurf des Brüssel werde nur von Technokraten gesteuert, etwas entgegenzusetzen. Vielleicht wird sich aus dieser Suche nach dem geeigneten Kandidaten ein neuer Prozess herauskristallisieren, der dann in 10-15 Jahren ein System generiert, das es möglich macht, alle Interessen in einem Kompromiss zusammenzubringen. Aber da sind wir leider noch nicht angekommen.

Umfragen nach, waren die wichtigsten Themen, die die Wahlen bestimmt und die EU-Bürger beschäftigt haben, Klimaschutz, Migration, und das künftige (wirtschaftliche) Modell der EU. Welche Themen werden in der neuen Legislaturperiode auf der Agenda der EU landen?

Die neue Kommission wird im Herbst ihre Arbeit aufnehmen und dann sein neues Programm für die kommenden fünf Jahre formulieren. Unter den Hauptthemen werden diese Drei mit ziemlicher Sicherheit aufgelistet sein. Ein interessanter Aspekt ist allerdings, dass diese drei Themen in ungleichen Maßen in den Mitgliedsstaaten vertreten sind. Klimaschutz zum Beispiel ist in den „neuen“ Mitgliedsstaaten im Osten weniger relevant wie im Westen. Wir wissen nicht genau warum, es gibt aber Theorien, die argumentieren, dass das mit dem Wohlstand eines Landes zu tun hat. Je höher der Wohlstand, desto höher die Sorge um sogenannte „post-materialistische“ Themen, wie etwa Umweltschutz. Was die Migration angeht, zeichnete sich auch ein Unterschied ab. Denn die Sorge um Migration hängt nicht unbedingt mit der Anzahl an ausländischen Einwanderern ab. Die Bürger Estlands zum Beispiel gehören zu jenen, die sich am meisten um Migration sorgen, obwohl das Land sehr wenige Flüchtlinge und Migranten aufgenommen hat. Auf jeden Fall wird es im kommenden Jahr zwei große Fragen zu besprechen geben. Zunächst, wie bereits gesagt, wird es um die Besetzung der neuen Posten gehen, und die dazu gehörigen Gespräche, Diskussionen und Kompromisse. 2019 wird also ein Jahr der institutionellen Erneuerung. Und das zweite große Thema wird sicherlich Brexit sein. Dazu brauchen wir dringend eine Lösung. Welche die sein wird, werden wir wohl erst sagen können, nachdem Theresa Mays Nachfolger sein Amt angetreten hat.