Meistens schaffe ich es, fragwürdige Kommentare auf Facebook gar nicht erst zu kommentieren. Nur manchmal sind meine Finger schneller als mein Verstand und ich lasse mich auf Diskussionen ein, die zum Scheitern verurteilt sind ... So habe ich erst kürzlich unter dem Foto zweier Bräute vor einem Altar einen ellenlangen Beitrag klassischen Whataboutismus kommentiert. Kurzgefasst ging es dabei um „merkt ihr denn nicht, dass ihr euch durch eure Solidaritätsbekundungen mit irrelevanten Themen, die unbedeutende Randgruppen betreffen (gleichgeschlechtliche Liebe und Ehe) von den wirklich wichtigen Themen, die alle betreffen (Bedrohung der Demokratie, Gewalt, Impfschäden, Altersarmut usw.), ablenken lässt?“

Meiner Meinung zum Whataboutismus habe ich schon einmal Ausdruck verliehen: Ich denke, der sollte schlicht und einfach keine Existenzberechtigung haben. Was ich hingegen gar nicht oft genug betonen kann, ist die Notwendigkeit vom Erforschen des gemeinsamen Ursprungs der oben genannten Missstände. Die kommen ja nicht von ungefähr und werden auch mit allen Mitteln aufrechterhalten. Von wem? Von den paar Menschen, die tatsächlich davon profitieren und von einer ganzen Menge von Menschen, die all das aus Ignoranz und Desinteresse einfach mittragen.

 

Nun frage ich mich: Wofür steht das beanstandete Bild der Bräute? Für einen Umbruch in einer der patriarchalsten (ja, es gibt einen Superlativ!) Einrichtungen überhaupt, der Kirche. Wer sind da ausnahmslos die Entscheidungsträger?
Und wer sollte als Garant der Demokratie handeln? Unsere Vertreter in der Politik. Aber wie setzt sich die Klasse der Politiker zusammen?
Und welches Wirtschaftssystem sorgt für die enormen sozialen Ungleichheiten und nicht zuletzt für die Ausbeutung der Umwelt: der Kapitalismus. Ja, und wer hat da die Führungspositionen inne?
Wer übt die Gewalt aus, individuell, auf gesellschaftlicher Ebene, durch Krieg?
Wer erzählt uns die Vergangenheit und übernimmt die Berichterstattung der Gegenwart?
Wer bestimmt medizinische Standards und Prioritäten in der Forschung?
Wer richtet über Gut und Böse?
Wer definiert, was normal ist und wie die Standards aussehen?

Wer also bestimmt in unserer Gesellschaft, was Sache ist? Ҫa va sans dire, die Antwort auf sämtliche Fragen lautet mit größter Wahrscheinlichkeit: Mann, weiß, cis, hetero, wohlhabend, ohne Behinderung …

 

Nun gibt es da ein nützliches Instrument zur Veranschaulichung des Machtgefüges in einer patriarchalen Gesellschaft. Ihr erinnert euch? Eine Gesellschaft, die von Männern für Männer geschaffen ist und erhalten wird: die Machtpyramide. Die Spitze ganz oben mit der meisten Macht bestücken einige wenige Menschen: männlich, weiß, cis, hetero, wohlhabend, ohne Behinderung … Ganz unten an der Basis der Pyramide mit der wenigsten Macht: weiblich, schwarz, transsexuell, lesbisch, arm, mit Behinderung … Dazwischen: die vielen verschiedenen Kombinationen. Grundsätzlich gilt: Je mächtiger, desto weiter oben; je weiter unten, desto mehr bestimmen Sexismus, Rassismus, Klassismus das Leben und den Alltag dieser Menschen.
 

Ich persönlich siedle mich, genauso wie die meisten meiner Bekannten, im Mittelfeld an. Klar erschwert mein Frausein so manches, aber immerhin bin ich in Südtirol geboren, hab die „richtige“ Hautfarbe, keine sichtbaren Behinderungen usw. Vielleicht steht deshalb für mich fest, dass die wirklich wichtigen Themen gerade bei Solidaritätsbekundungen und Verbindungen mit anderen Menschen beginnen, die sich für ihre ganz persönlichen Prioritäten starkmachen und somit an der bestehenden Gesellschaftsstruktur rütteln.