Economy | Interview
„Was ist der Plan B?“
Foto: Südtirolfoto/Helmuth Rier
Kurt Werth, geboren 1946 in St. Pauls im Überetsch, ist Autor mehrerer Fachpublikationen zum Thema Landwirtschaft. Zuletzt erschien von ihm das mehr als 400 Seiten dicke historische Werk „Südtiroler Obstbaugeschichte(n)“. Der Experte kuratierte jahrelang die Apfelmesse Interpoma in Bozen, er besuchte die namhaften Obstbaugebiete weltweit und war beim Südtiroler Beratungsring für Obst- und Weinbau tätig.
salto.bz: Herr Werth, Anfang des Jahres sorgten Südtiroler Pestiziddaten aus dem Obstbau für Schlagzeilen in einem der wichtigsten Tagesblätter Deutschlands. Wie beurteilen Sie die Debatte?
Kurt Werth: Ob Flächen biologisch oder konventionell bewirtschaftet werden, muss im richtigen Licht betrachtet werden. Die Diskussion wird in den Medien und in der Öffentlichkeit nicht objektiv geführt, weil die Kritiker vielfach nicht wissen, was läuft. Es ist ja nicht so, dass im Bio-Anbau keine Pflanzenschutzmittel zum Einsatz kommen – ganz im Gegenteil, es werden dort wesentlich mehr eingesetzt. Der einzige Unterschied ist, dass im konventionellen Obstbau synthetische, also von Menschen gemachte Produkte eingesetzt werden und im Bio-Anbau nur Naturprodukte. Auch im Bio-Anbau werden Produkte eingesetzt, welche die Umwelt belasten, beispielsweise Kupfer, Schwefel oder bestimmte Insektizide. Chemische Produkte bauen sich teilweise sogar schneller ab als bestimmte Naturprodukte.
Der Erfolg des Südtiroler Obstbaus liegt in der Organisation der Verbände.
Also braucht es eine differenzierte Betrachtung.
Bei Bio gibt es oft einen philosophischen Denkfehler: Die Natur an sich ist nicht nur positiv, sie ist nicht nur gesund. Das Menschengemachte ist nicht nur negativ und giftig. Die Natur hat vorgesehen, dass ein Wurm in einen Apfel hineingeht, dass es Läuse und Spinnen gibt. Deshalb wird man ohne Pflanzenschutzmittel nicht auskommen, beim Bio-Anbau als auch beim konventionellen.
Welche Rolle spielt Bio im Südtiroler Obstbau?
Der Bio-Anbau ist in den letzten Jahren gewachsen, heute sind es zehn bis 12 Prozent der Anbaufläche. Seit drei, vier Jahren stagniert die Entwicklung aber, weil der Ertrag im Bio-Anbau um mindestens 30 Prozent geringer und der Preis vergleichsweise stark zurückgegangen ist. Denn der Konsument hat seine Einstellung zur Bio-Produktion geändert.
Welches Potential sehen Sie in kleinbäuerlichen Betrieben für die nachhaltige Entwicklung Südtirols?
Die Frage ist, was man unter Nachhaltigkeit versteht. Erstens muss das Produkt frei von Schadstoffrückständen und gesund sein, zweitens muss die Umwelt langfristig geschützt werden. Das ist unverhandelbar und wird bereits vom Südtiroler Obstbau garantiert. Das Obst war noch nie so sicher wie heute, das schreibt auch der Gesetzgeber so vor.
Ich verstehe unter Nachhaltigkeit auch die Stärkung regionaler Kreisläufe – dadurch werden Transportwege und CO2-Emissionen reduziert, gleichzeitig kann durch verschiede Gemüse- und Obstsorten die Artenvielfalt gefördert werden.
Es verlangt die Betriebswirtschaft, dass wir uns auf eine Kultur spezialisieren. Wir haben keinen lokalen Markt, wir haben keine Zehn-Millionen-Stadt vor der Haustür – wir haben also keine andere Chance. Südtirols Äpfel werden nach Grönland, Saudi-Arabien und bis nach Korsika exportiert, das muss positiv betrachtet werden. Wir verfügen über die weltweit besten Lagerstätten für Obst.
Transport und Lagerung verursachen aber hohe CO2-Emissionen.
Mit einer diversifizierten Landwirtschaft kann nur ein Bruchteil der Wertschöpfung des Obstbaus erwirtschaftet werden. Sie müssen heute 25.000 Euro pro Hektar erwirtschaften. Es gibt keinen anderen Weg, sonst hätten wir es längst schon getan.
Durch die Tausenden Tiefbrunnen in Südtirol haben wir bislang genügend Wasser, um auf einem Großteil der Flächen die Frostberegnung im Frühjahr durchzuführen.
Es braucht einen Paradigmenwechsel bei den Konsument*innen. Früher haben die Menschen noch einen höheren Teil ihres Einkommens für Lebensmittel ausgegeben.
Um die Weltbevölkerung von acht Milliarden Menschen zu ernähren, braucht es die intensive Landwirtschaft. Damit werden Produkte mit einem angemessenen Preis verkauft, die sich die Menschen auch leisten können. Alle streben nach Verbesserung, vieles aber ist ein Wunschgedanke, den man leicht ausspricht. Was ist die Alternative? Was ist der Plan B?
Um die Pariser Klimaziele einzuhalten, müssen die CO2-Emissionen bis 2030 weltweit halbiert werden. Wie soll das gehen ohne die Landwirtschaft?
In der Lebensmittelbranche verursacht die Fleischproduktion die meisten CO2-Emissionen, Obst- und Gemüseanbau spielt hier keine Rolle.
Man kann seinen Fleischkonsum reduzieren, aber auf Obst und Gemüse kann man nicht verzichten.
Dabei beachten Sie aber nicht die CO2-Emissionen im Warentransport.
Wie wollen Sie in Saudi-Arabien Äpfel anbauen? Man kann seinen Fleischkonsum reduzieren, aber auf Obst und Gemüse kann man nicht verzichten. Die Alternative muss wie gesagt machbar sein.
Wann ist den Südtiroler*innen eigentlich eingefallen, in großem Maßstab Äpfel anzubauen?
Der Obstbau zu Erwerbszwecken etablierte sich in Südtirol in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, etwa ab 1850, unter dem Einfluss der Lehr- und Versuchsanstalt San Michele, die damals das Mekka des Apfelanbaus im Alpenraum darstellte. In der Zwischenkriegszeit entstanden die ersten Genossenschaften im Land, an Fahrt aufgenommen hat der Obstbau nach dem Zweiten Weltkrieg und dann mit der Gründung der EU.
Wie war die Landschaft im Etschtal vor dem Apfelanbau geprägt?
Vor der Regulierung des Flusslaufs der Etsch und der Trockenlegung der Sümpfe wuchsen Schilf und Auwälder. Nach der Trockenlegung im Laufe des 19. Jahrhunderts wurde in der Talsohle vor allem Mais angebaut. Das schrieb eine Verordnung der Kaiserin Maria Theresia vor, um die Ernährung der Bevölkerung zu gewährleisten.
Was macht den Südtiroler Obstbau so erfolgreich?
Der Erfolg des Südtiroler Obstbaus liegt in der Organisation der Verbände. Südtirol versteht es bis heute, sich genossenschaftlich zu organisieren und zusammenzuarbeiten, das reicht auf die Raiffeisenkassen und Kellereigenossenschaften zurück. Das von der EU geförderte Genossenschaftswesen des Obstbaus hat in den 60er Jahren die Vermarktung ausgeweitet. 1957 startete der Beratungsring, eine unabhängige Beratungsorganisation, die vom Land finanziell unterstützt wird. Und Anfang der 70er Jahre entstand das Versuchszentrum Laimburg, die dritte Säule für den Erfolg des Obstanbaus. Hinzu kommt, dass die Landwirtschaft mit dem Südtiroler Bauernbund als Lobby gut aufgestellt ist. Auch das Baumschulwesen, die Bonifizierungs- und Beregnungskonsortien sind bestens organisiert. So haben Kleinbetriebe eine Chance, zu überleben.
In Konkurrenz mit den EU-Anbaugebieten konnte sich der Südtiroler Obstbau durch die Anhebung der Erträge retten.
Wie würden Sie die typische Betriebsstruktur im Südtiroler Obstbau beschreiben?
Es gibt drei Betriebsformen. Rund 30 Prozent der Betriebe bewirtschaften eine Fläche von mindestens fünf Hektar, speziell im Vinschgau gibt es größere Betriebe. Ihre Fläche ist groß genug, um von der Landwirtschaft leben zu können. Rund 50 Prozent der Betriebe befinden sich in kleineren Dimensionen zwischen zwei und drei Hektar. In diesen Fällen ist der Obstbau eine wichtige Einkommensquelle, aber es braucht auch einen Nebenerwerb. Bei der dritten Betriebsform wird der Obstbau nur noch in Teilzeit betrieben, die Südtiroler sagen „Somstig-Sunntig-Bauern“. Wer rund einen Hektar bewirtschaftet, geht einem anderen Hauptberuf nach und widmet sich in seiner Freizeit der Landwirtschaft. Es ist eine weitere Stärke des Südtiroler Obstbaus, dass quer durch die Betriebsformen bislang ein zufriedenstellendes Familieneinkommen erwirtschaftet werden kann.
Welche Rolle hat die Südtiroler Apfelmesse Interpoma in der Welt der Landwirtschaft?
Wie das Wort „poma“ (Apfel auf Latein, Anmerkung d. R.) schon verrät, ist die Interpoma die einzige Messe weltweit, die den Anbau, die Lagerung und die Vermarktung von Äpfeln in den Fokus stellt. 1998 ging die erste Ausgabe über die Bühne. Der Anfang war nicht einfach, aber sie konnte sich im Laufe der Zeit ohne Übertreibung zum Nabel der Apfelwelt etablieren und findet alle zwei Jahre statt. Wer mit Apfelanbau zu tun hat, kennt die Interpoma. Bei den letzten von insgesamt 13 Ausgaben gab es bis zu 20.000 Besucher aus 75 Ländern weltweit.
Wie beurteilen Sie die wirtschaftliche Entwicklung des Obstbaus in den letzten Jahrzehnten in Südtirol?
Im Laufe der letzten 50 Jahre konnte die Produktion im Zehn-Jahres-Durchschnitt durch die Verbesserung und Intensivierung des gesamten Anbaus jährlich um zehn bis 20 Prozent gesteigert werden, mit Spitzen von bis zu 65 Tonnen pro Hektar. Heute spricht man von einer Dichtbepflanzung, bei der bis zu 4.000 Bäume pro Hektar gepflanzt werden. In Konkurrenz mit den EU-Anbaugebieten konnte sich der Südtiroler Obstbau durch die Anhebung der Erträge retten, denn im selben Zeitraum ist der Preis um etwa denselben Prozentsatz zurückgegangen. Die Einführung neuer Sorten führte kurzweilig zu einer Verbesserung, gleichzeitig war der gesamte Ertrag in den letzten sechs Jahren aufgrund von nicht optimalen Wetterverhältnissen etwas rückläufig. Trotz der letzten drei Jahre mit kritischer Marktlage steht es um den Südtiroler Obstbau auf längere Zeitabschnitte betrachtet nicht schlecht.
Welche Auswirkungen hat der Klimawandel auf den Südtiroler Obstanbau?
Es sind noch keine unmittelbaren Auswirkungen festzustellen. Bei heißen Temperaturen gibt es etwas mehr Sonnenbrand, das gab es früher in dem Ausmaß noch nicht. Auch der Wassermangel war für mehrere Monate spürbar. Aber durch die Tausenden Tiefbrunnen in Südtirol haben wir bislang genügend Wasser, um auf einem Großteil der Flächen die Frostberegnung im Frühjahr durchzuführen, das ist nicht in allen Anbaugebieten Europas möglich.
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Frau Luther hat die Frage
Frau Luther hat die Frage nach der Ernährung der bis zu 4.000 Bäume / ha, glatt vergessen. Sie kommt bei den neuen wenig Wurzeln-bildenden Unterlagen, die deswegen Stütz-Gerüste brauchen, aus der nicht gerade Umwelt-freundlichen Chemie-Küche. Die früheren hoch-Stamm-Bäume haben mit ihren weit + tief verzweigten Wurzeln, noch viele Nährstoffe im Boden erschlossen und wurden auch mit dem Mist des gleichzeitig gehaltenen Rindviehs gedüngt.
Seit die Chemie-Duschen die Rindvieh-Haltung unmöglich gemacht hat, fällt diese Art der Düngung aus.
Ein weiteres Detail wurde bei den Fragen ausgelassen. Insekten haben, auch begünstigt durch günstige Klima- + Witterungs-Umstände, ihre "Massen-Auftritte." Danach kommt meistens eine Periode, in der sie "recht lahm auftreten." Die Berater "ermuntert von der Industrie" die von den Chemie-Duschen möglichst viel umsetzen will, tendieren zum Rat "volles Programm anzuwenden," um Schadens-Ersatz-Klagen zu vermeiden.
Ab welcher Apfelanbaufläche
Ab welcher Apfelanbaufläche bzw. Produktionsmasse, wird Apfelanbau zu einer industriellen Produktion?
Industrielle Produktion und Kleinteilige Land/Wirtschaft, sind unterschiedliche Bewirtschaftungseigentümlichkeiten! Es ist nicht nur der Philosophische Ansatz, der den Unterschied macht.
Um sozialen Ungleichheiten entgegenzuwirken, braucht es ein verändertes Steuersystem (- berechnet über Einkommen und Besitz), UND Kostenwahrheit.
Soll heißen: Umverteilung durch Steuerreformen, eine Internalisierung der Kosten (Kostenwahrheit), eine radikale Umgestaltung der Förderungspolitik, z.B. Abbau umweltschädlicher Subventionen (Emissionen und Ressourcenverbrauch müssen gesenkt werden), Förderung für ökologischen Landbau und Ausbau einer regionalen Kreislaufwirtschaft, usw…
Ökosoziale Nachhaltigkeit muss den gleichen Stellenwert erhalten, wie ökonomische Nachhaltigkeit, und ist ein Gemeinschaftsprojekt!