Verdorbene Verderbtheit
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Die Filmvorführung findet zwar nicht im Freien statt, trotzdem ist es ein perfekter Sommerfilm, den man aus dem Jahr 1966 von der Tschechischen Regisseurin Věra Chytilová herbeiholt. In schlanken 75 Minuten lässt der Film tief blicken, wobei das Handlungskonzept schnell erklärt ist: Zwei „Maries“ wollen nicht länger nur am Beckenrand der moralischen Verderbtheit dieser Welt sitzen und wagen den Kopfsprung.
Es folgen vor allem kulinarische Exzesse (Hauptgrund für das Verbot des Films mit Zerschlagung des Prager Frühlings 1968 war Lebensmittelverschwendung), doch auch destruktives und kindliches Verhalten, letzteres im Kontrast zur Koketterie der Damen. Den oft älteren, weißen Männern in schwarzen Anzug-Jacken, die der gehobenen Gesellschaft angehören, werden der Reihe nach die Köpfe verdreht, hauptsächlich um an mehr Essen oder Wein zu kommen. Der Charme junger, schöner Frauen führt hier zur Umkehr der Kräfteverhältnisse, entziehen sich die Maries doch immer den Avancen in letzter Minute, auch wenn der Film keineswegs prüde ist. Die Männer bleiben mit unerfülltem Verlangen und/oder Herzschmerz am Ende einer Telefonleitung, am Esstisch oder im Zug sitzen, der ohne die Frauen abfährt. Später sehen wir dagegen, dass diese Bindung an flüchtige Anerkennung von außen auch auf unsere Damen zurückfällt, die darauf nur mit unerschrockenem Frohsinn und dem Mantra „wir existieren“ reagieren können.
Spannender als das Erzählte, ist in „Sedmikrásky“ die Art und Weise wie spielerisch und prozesshaft zugleich erzählt wird: Im Kernwerk der Tschechoslowakischen Neuen Welle bekommt man alles, was man sich von einem Avant-Garde-Film erhoffen mag: Große Experimentierfreude, besonders, doch nicht nur bei der Kamera (Jaroslav Kučera) und den Schnitten (Miroslav Hájek, der mehrfach mit Miloš Forman zusammenarbeitete), stellenweise surrealistische Sequenzen und unerklärte Farbwechsel, Musikalität und Dada, sowie fantastische Bilder, die wenig Interesse an Kontinuität oder Realismus zeigen… Die Liste ließe sich fortsetzen.
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Gerade auch wegen der sprachlichen Musikalität, die Jitka Cerhová als brünette und Ivana Karbanová als rothaarige Marie ihren Rollen geben, sind wir froh, dass der Film nicht nachsynchronisiert wurde. Im Kulturzentrum Meran zeigt der Verein Mairania 857 den Film mit italienischen Untertiteln. Vielleicht kann man als Zuseher mit etwas Schriftlichem auch besser erkennen, wie zyklisch nicht nur gewisse Symbole - vom Apfel bis zum Fallus - sondern eben auch die Dialoge sind. Jedes Mal wenn sich ein Missgeschick ereignet, stellen die Maries einander die Frage, ob es eine Rolle spielt, immer antworten sie mit nein. Im Sog des moralischen Nihilismus drohen die beiden unterzugehen, nicht aber der Punkt des Filmes, der provozieren will und kann. Heute ist das nicht mehr so stark der Fall wie noch vor 58 Jahren, als der Film sicher eine ganz eigene Mischung aus Ekel und Anziehung beim Publikum weckte.
Irgendwo zyklisch mit unserer Zeit erscheint uns auch die Klammer die man mit einer Widmung am Ende des Filmes zum abstrakten Vorspann schließt: Wir sahen und hörten ein großes Schwungrad schnaufen und stampfen, dazwischen wurden stumm Bilder von Flugzeugbombardements gezeigt. Die Flugzeuge drehen Kreise, werfen immer wieder ihre todbringende Fracht in den ohnehin am Verfall interessierten Film, auch im Abspann. Darauf folgt nur mehr eine Widmung an „jene, die nur ein zertrampeltes Salatbeet betroffen macht“. Ein Schlag gegen die Doppelmoral all jener, die bei Krieg schulterzuckend wegsehen, bei Fragen der Sitte und Moral aber als erste zur Stelle sind.
Mich persönlich erinnert diese Provokation ein wenig an die Dragshow bei der heurigen Olympia-Eröffnung, auch wenn der künstlerische Leiter der Eröffnungszeremonie, Thomas Jolly beteuert, keine religiöse Gruppierung beleidigen haben zu wollen. Hohe Amts- und Würdenträger der Katholischen Kirche in Europa sahen aber ein queeres „Abendmahl“ und waren nicht erpicht. Als Inspiration habe jedoch nicht „Das letzte Abendmahl“ von Leonardo da Vinci gedient, sondern, was bei den säkularen Spielen sinniger ist, Darstellungen der Olympischen Götter, teilte Jolly dem französischen Nachrichtensender BFM TV mit. Ich selbst musste am Freitag, zuhause vor dem Fernseher, als ein blauer Dionysos unter einer Servierhaube zum Vorschein kam, nicht ans Christentum denken. Irgendwer bekommt irgendwie immer irgendwas in den falschen Hals, 1966 wie auch 2024.
Der Film „Le Margheritine“ ist morgen, Mittwochabend ab 20.30 Uhr, bei freiem Eintritt im Kulturzentrum Meran im Originalton mit italienischen Untertiteln zu sehen.