Society | Gastkommentar

Wie soll ich da Videounterricht machen?

Die Entgegnung eines Oberschullehrers auf den Kommentar „Selbstlob stinkt“ und die Zustände und Fragen, mit denen man sich derzeit in der Schule auseinandersetzen muss.
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Foto: upi
Mit großem Interesse habe ich als Lehrer an einem staatlichen Gymnasium in Meran Ihren Kommentar zum Thema Fernunterricht gelesen. Als direkt Betroffener finde ich die Außensicht immer besonders spannend und wichtig, um wenigstens ansatzweise Verbesserungen in dieser schwierigen Zeit zu erzielen. In vielerlei Hinsicht bin ich einer Meinung mit Ihnen.
 
In einigen Punkten jedoch habe ich das Gefühl, dass Ihre Aussagen aus einer sehr subjektiven und wenig reflektierten Gefühlslage heraus geschrieben sind (was in einem Kommentar ja immerhin legitim ist). Manches wundert mich sehr, zum Beispiel Ihr Verständnis von Fernunterricht. Wenn ich Sie nicht ganz falsch verstehe, identifizieren Sie „Fernunterricht“ mit „Videokonferenz“. Fernunterricht findet demnach für Sie nur dann statt, wenn er über eine Videoplattform wie Zoom abläuft. Das sehen wir an unserer Schule in Meran (und hier meine ich Lehrpersonen, Eltern und Schüler*innen, denn wir haben sie bzw. ihre Vertreter befragt) anders, denn Fernunterricht kann und soll auch auf anderen Wegen stattfinden: Arbeitsaufträge, Arbeitsblätter, Online-Recherchen und vieles andere mehr. Und ja, vieles davon findet online statt - wie denn sonst? Uns ist der Kontakt zu den Schülerinnen und Schülern sehr wichtig, betreuen können wir sie zuhause aber fast nur online.
 
Sie mögen nun kritisieren, dass dieser Kontakt kaum stattfindet und deshalb Videounterricht sinnvoller sei. Dazu zwei zentrale Gedanken:
Erstens ist es für Jugendliche und Kinder kaum auszuhalten, stundenlang vor dem Bildschirm einer Videoübertragung zu folgen. Das ist extrem ermüdend und wenig sinnvoll. Nur wenige Unterrichtsformate eignen sich für den Videounterricht, so etwa der Frontalunterricht. Sollen wir jetzt den Unterricht verstärkt auf frontal umstellen? Gott bewahre! Das, was vormittags in den Klassenzimmern läuft, ist nur in seltenen Fällen dazu geeignet, als Videounterricht übertragen zu werden. Können Sie sich zum Beispiel vorstellen, eine Klassendiskussion zu streamen? Oder eine Übungsphase - etwa das Schreiben eines Textes (ich bin Deutschlehrer)? Nun könnten Sie ja feststellen, dass man dann halt andere Formate dafür wählen müsse; betreuter, gestalteter Videounterricht in direktem Austausch und im Gespräch mit den Jugendlichen, nicht nur als bloßer Livestream. Da hätten Sie recht! Jedoch kommt mir an dieser Stelle der zweite wichtige Gedanke:
 
 
Wann und wo sollen wir Lehrpersonen das tun? Am Vormittag bin ich im Präsenzunterricht voll engagiert - ich habe also nicht die Zeit, mich mit der Gruppe der Daheimgebliebenen intensiv zu beschäftigen. Meine Arbeitszeit sieht 100% Unterricht in den Klassen vor, die Reduktion der Schüleranzahl in den Klassen führt ja nicht zu einer Reduktion meines Arbeitsauftrages. Ich habe zwar immer wieder „Löcher“ zwischen den Unterrichtsstunden, in denen ich wenigstens einen kleinen Teil eines solchen Videounterrichts gestalten könnte. Allein, wo soll ich das tun? An der Schule haben wir Lehrpersonen weder die notwendige technische Ausstattung noch die Räumlichkeiten dafür. Das soll uns zur Verfügung gestellt werden? Das ist kaum möglich: Wir sind ca. 150 Lehrpersonen in 47 Klassen, die allesamt aus der Ferne betreut werden müssen. Ich brauche einen Raum, in dem ich alle Ruhe habe und der technisch entsprechend ausgestattet ist. Dafür bräuchten wir ein veritables Bürogebäude. An unserer Schule ist jeder einzelne (!) Raum mit Klassen besetzt, wir haben nicht einmal ein Sprechzimmer. Wir haben eine Reihe internetfähiger Computer, die wir uns aber alle teilen müssen. Zudem sind sie ausschließlich an öffentlichen Orten aufgestellt, etwa Lehrerzimmer oder Bibliothek. Wie soll ich da Videounterricht machen?
Das würde bedeuten, dass wir schlicht und einfach doppelt arbeiten müssten, ohne dafür einen Cent mehr zu verdienen.
Gut, werden Sie sagen, wenn’s Vormittag nicht geht, dann halt nachmittags. Lassen wir mal den didaktischen Gedanken beiseite (Wie sinnvoll ist es, den ohnehin schon anstrengenden und distanzbedingt abstrakten Videounterricht noch im allgemeinen Tief am Nachmittag oder gar abends zu machen?) und kommen wir zum Eingemachten: Lehrpersonen arbeiten auch am Nachmittag. Wir müssen vorbereiten, nachbereiten, korrigieren, nehmen an zahlreichen Sitzungen teil, bestreiten Fortbildungen und was halt so dazugehört, einen Schulbetrieb aufrecht zu erhalten. Wann soll der Videounterricht also gemacht werden? Und noch heikler: Das würde bedeuten, dass wir schlicht und einfach doppelt arbeiten müssten, ohne dafür einen Cent mehr zu verdienen. Denn weder wurde in Zusammenhang mit den neuen Auflagen auch nur eine einzige zusätzliche Lehrperson in Südtirol angestellt noch hat sich unser Arbeitsvertrag um ein Komma verändert. Man erwartet offensichtlich ganz ohne Diskussion, dass wir diese Mehrarbeit leisten. Punkt.
 
Damit Sie sich das konkret vorstellen können: Ich unterrichte beispielsweise (neben anderen Klassen) in einer 5. Klasse. Jeweils eine Hälfte der Klasse ist anwesend, die andere zuhause. Jetzt habe ich zwei Möglichkeiten: Entweder ich wiederhole für die eine Gruppe genau das, was ich die Woche zuvor mit der anderen Gruppe bearbeitet habe. Das hat zwei Nachteile: Ich kann im Jahresverlauf nur die Hälfte an Themen behandeln und die „Zuhausegruppe“ würde sich eine Woche lang eher langweilen, denn sie müsste mit Übungen oder sowas „abgespeist“ werden. Weder didaktisch noch arbeitsethisch sinnvoll.
 
 
Also die zweite Variante: Ich gestalte Unterricht in der einen Gruppe in Präsenz und sorge dafür, dass die Daheimgebliebenen einen qualitativ hochwertigen Fernunterricht bekommen, der sicherstellt, dass sie gegenüber den anderen nicht zurückbleiben. Das muss gezielt vor- und nachbereitet werden, kann auf keinen Fall eine reine Kopie des Präsenzunterrichts sein (aus oben genannten Gründen), erfordert jedenfalls ebenso viel Zeit und Energie wie der Regelunterricht in Präsenz. Ergo: Ich muss doppelt so viel arbeiten wie bisher (nebenbei immer noch mit fragwürdigen Ergebnissen), ohne für diese Mehrbelastung honoriert zu werden, nicht einmal Anerkennung zu finden - siehe Ihren Kommentar auf Salto und wiederum die Kommentare darauf.
Keiner von uns hat einfache und schon gar nicht perfekte Lösungen anzubieten. Eines erscheint mir aber sicher: Eine bloße Polemik löst das Problem nicht.
Wie ist dieses Dilemma zu lösen? Ich kann es Ihnen nicht sagen, zumindest nicht hier in einer Mail auseinandersetzen. Dafür bräuchte man viel Zeit und Raum. Denn Sie merken ja, dass die Materie komplex ist. Keiner von uns hat einfache und schon gar nicht perfekte Lösungen anzubieten. Eines erscheint mir aber sicher: Eine bloße Polemik löst das Problem nicht. Sie greift viel zu kurz und schafft nicht einmal das, was eine Polemik eigentlich tun soll, nämlich den kritischen Blick auf einen Missstand zu richten. Mein Eindruck ist eher, dass sie Porzellan zerschlägt und Frust (an beiden Enden des Fernunterrichts) schafft.