Der rote Kontrapunkt

Sie fällt auf, das ja. In ihrem grellen, chemischen Rot, das hier oben besonders künstlich hervorsticht. Die knallrote Biwak-Schachtel, die nur eines soll: den Menschen Schutz und Zuflucht sein. Vor Blitzen, vor Regen, vor Hagel, vor Schnee oder Kälte. Ein kleiner roter Punkt im ausgesetzten Terrain, im Gebirge, im Weiten, Großen, Hohen.
Ein Orientierungspunkt auch.
Sie ist einfach nur da, wo sie steht. Mehr nicht. Klein und klar in ihrem Dasein und in ihrer Funktion. Und angemessen. Angesichts des, wie es gerne heißt 'Unermesslichen', wirkt sie wacker und bescheiden. Sie thront nicht, sie ist kein Objekt der Eroberung, sie ist kein Sieg, und kein Grund, um Krieg zu führen. Angesichts der vielen politischen Vermessungen und symbolischen Vermesstheiten, die über die Berge gespannt wurden, ist sie ein radikaler Kontrapunkt.
Stattdessen scheint man förmlich den Hagel zu hören, der im Unwetter auf sie niedergeht. Das Prasseln des Regens auf das Blechdach.
Kann den Schnee sehen, der sich darauf niederlegt, sich auftürmt, bis das Rot der Hütte darunter verschwindet.
Kann das Schmelzwasser hören, wie es am Blech herunterläuft, mit der Sonne, die es wärmt; sieht den schwelenden Dampf dicht auf der blechernen Oberfläche, und im Sommer die gleißende Hitze.
Spürt die Wucht der Sturmböen, die gegen die Wände drücken, den pfeifenden Wind, den Graupelschauer, der ihr entgegenschleudert. Ausgesetzt bei Wind und Wetter, bietet sie denen Schutz, die sich im Ausgesetzten aufhalten wollen.
Ihre Präsenz stellt eine ganz andere Verbindung zum Berg her, als es ein am Gipfel erbautes Restaurant tut, bei dem das Überragende, auch Triumphierende untergelegt scheint. (Dabei ist das wirklich Untergelegte das Gebirge, das den Triumph am Gipfel überhaupt erst möglich macht.)
Die Blechschachtel erinnert auf befreiende Weise daran, was die Berge nicht sind. Was sie alles nicht sind. Als würde dieser rote Punkt eine ganze Gebirgswelt freisetzen.
Manchmal bedeutet Freiheit bereits einfach nur das Weglassen des Unnötigen. Des Angedichteten, oder Angehängten. Des Projizierten. Des Behaupteten. Auch das Weglassen eines Anspruchs.
Stattdessen zu sehen, was da ist, groß, bedrohlich und gefährlich, ja sogar schön und überwältigend, und jedenfalls in einem so radikal ungleichen Verhältnis zum Menschen und seiner Sinnsuche, dass es schwerfällt, dieses steinerne Gegenüber auszuhalten, das ewig schweigt. Auszuhalten, und nicht zu verstehen, was es bedeutet, und warum es da ist.
Also Besteigung. Also Eroberung. Wir haben das Narrativ des Wettstreits in Stellung gebracht und unterstellen außerdem, dass es die Berge sind, die das so wollen: bestiegen, erobert und bezwungen zu werden. Ja sogar, dass sie rufen würden, wird gesagt.
In vielen Allmachtsphantasien und Überspanntheiten ist 'das Gewaltige' oder 'gewaltig' zu sein, Grund genug, um einen Zweikampf auszumachen, Berg gegen Mensch, oder Mensch gegen Berg. Als ginge es um einen Kampf um Sieg und Unterwerfung.
Aber der Berg ruft nicht, nicht zum persönlichen Wettstreit und nicht zum Krieg.
Er ist ein unbeteiligter Akteur, und auch er ist ausgeliefert, sich selbst, und unseren Ansprüchen, den politischen, ideologischen, religiösen, territorialen und wirtschaftlichen.
Doch Berge haben keine reine Seele. Es sind Lebensräume, die in hohem Grade von Verflechtungen abhängig sind, und da es prekäre Lebensräume sind, noch umso mehr.
Er ist nicht ursprünglich römisch-katholisch, wie es die hineinbetonierten Gipfelkreuze in den Alpen denken lassen, und er birgt auch nicht den Ursprung nationaler oder völkischer Werte.
Er ist ein Schauplatz, wenn auf ihm drauf alpine Museen an seine Eroberung erinnern. Ein Kriegsschauplatz, wenn geschossen und gebombt wird, wie vor hundert Jahren in den österreichisch-italienischen Alpen. Als Soldaten durch die Luft flogen, die seither im umzäunten Gottesacker beerdigt sind. Wer in den Karnischen Alpen durch die rostigen Eisenkreuze streift und die Namen der Toten überfliegt, stößt hauptsächlich auf slawische und ungarische Namen, Namen aus ferner Herkunft von jungen Soldaten, die ein Gebirge verteidigen sollten, das eine einzige existenzielle Zumutung für sie gewesen sein musste.
In den gnadenlosen und unwirtlichen Gesteinstälern, die keinem – egal welcher Herkunft – eine sichere Behausung, geschweige denn ein Zuhause sein können, zeigt sich das Unsinnige am Kriegsführen umso schmerzhafter. Oder ganz oben, wo ein Meer sich kreuzender Gebirgszüge sich eröffnet, soll ein einziger die Grenze zwischen den Nationen bestimmen? Hier wurden die härtesten Kriege geführt, sie haben Spuren hinterlassen, die noch heute sichtbar sind, Schützengräben, Bunker, weggesprengte Wege und Übergänge. Nicht weniger eindrücklich sind die Erzählungen darüber. Wie sie sich, 'die Gebirgsjäger', die Nahrungsmittelzufuhr gegenseitig wegbombardiert haben, mitsamt den Maultieren und den Eseln. Auf den Wegen, die einst geschaffen wurden, um aufeinander zu treffen, und zwar nicht, um sich einen Zentimeter Geröll abzuringen und dafür zu töten, sondern, um sich in einer Welt unter denselben Bedingungen mannigfach zu verbinden und verbunden zu bleiben. Es gibt tausend Gründe, weshalb es Wege gibt. Wie überhaupt Wege nicht gebaut werden, um Grenzen zu errichten.
An den 'ewig bestehenden Bergmassiven' wird gerne das Beständige ausgemacht, daran dann das Wahre und das Reine, um daraus eine menschliche Seelenart abzuleiten, eine Identität des Wahren und des Beständigen, die dann gegen das Andere, das Fremde, das Kontaminierte in Stellung gebracht wird. Das völkische Wesen, das den Bergen angehängt wird, ist, was wiederum andere vor den Bergen abschreckt. Als würden die Berge (und nicht die Menschen) die Lederhosen tragen oder vollbusige Mieder.
Doch Berge haben keine reine Seele. Es sind Lebensräume, die in hohem Grade von Verflechtungen abhängig sind, und da es prekäre Lebensräume sind, noch umso mehr. Was hier überlebt oder noch überlebt hat, hat mit allen anderen Spezies zusammengewirkt, mit den Gesteinsarten, den Gewächsen und Tieren und hat sich der Witterung und dem Klima angepasst und ist daraus entstanden und hervorgegangen. Es ist eine Zone hochgradiger Symbiosen, in der alles ineinanderwirkt, andernfalls könnte es gar nicht bestehen. Die wirkliche Leistung der Unterscheidung liegt im Herausfinden, welche der Gesteinsarten zu welcher Zeit sich ineinandergeschoben haben. Wie und auf welche Weise sich geologische, meteorologische, pflanzliche Prozesse einander bedingten. In welchen zeitlichen und räumlichen Dynamiken diese Symbiosen stattgefunden haben – und noch stattfinden. Ein wissenschaftliches Arbeiten, das dem Realen folgt und sich führen lässt von dessen komplexer räumlicher wie zeitlicher Verfasstheit.
Zugehörigkeit schafft, wer sich verbunden weiß, wer ihren Spuren folgt, ihren Geheimnissen, wer Erkenntnisse daraus gewinnt. Zu denen, die sie seither entdecken, gehören seit jeher gleichermaßen die, die in ihnen leben und die, die von außen zu ihnen kommen. ‚Einheimische’, die ihr Wissen und ihre Kenntnisse aus dem Vertrauten schöpfen, und ‚Fremde’, die es aus dem Blick für das Besondere gewinnen.
Und nicht zu vergessen die ‚Entdecker’, die Namensgeber, einer wie Déodat de Dolomieu, ohne die die Dolomiten sonst gar nicht wüssten, wie sie in Wahrheit heißen.