Die große kleine Bühne HdS
1. Akt: Aperitif
Das Wetter kann sich nicht so recht entscheiden, ob es schön oder grauslich sein will. Ein paar Wolken hängen schon am Himmel, als ich um 17 Uhr beim Haus der Solidarität eintreffe, doch noch ist die Temperatur draußen angenehm warm. Zur Sicherheit habe ich trotzdem eine Jacke dabei. So stand es nämlich in der Einladung – und schließlich soll das Ganze hier ja eine OpenAir-Veranstaltung – inklusive Live-Musik – sein.
Die anderen Gäste scheinen sich wenig um das Wetter zu kümmern. Ich sehe Frauen in Sommerkleidern und Männer in kurzärmligen Hemden, die in Grüppchen herumstehen, Prosecco oder Apfelsaft schlürfen und sich angeregt unterhalten. Dazwischen wuseln immer mal wieder Kinder herum. Es herrscht eine Atmosphäre, wie bei einem Klassentreffen. Nein, besser wie bei einem Familientreffen. Eine große, weit verzweigte Familie, die sich lange nicht mehr gesehen hat und die sich nun freut, endlich wieder beieinander zu sein: Mitarbeitende und Bewohnende des Hauses, langjährige Wegbegleiter und Wegbegleiterinnen, Unterstützende, und diejenigen, die im Laufe der letzten 20 Jahre aus den verschiedensten Gründen mit dem Haus der Solidarität zu tun hatten.
Und dann ist da noch der Ehrengast: Alexander Nitz – für die meisten einfach nur Alex -, dienstältestes Mitglied der Hausleitung, das heute seinen Abschied feiert. Alex lässt es sich nicht nehmen, jeden Gast zu begrüßen, hier ein Schulterklopfen, da ein „lange nicht gesehen“ und so ganz nebenbei nimmt er fast schon verschämt auch ein paar Geschenke entgegen. Alle Anwesenden wissen, dass sie hier sind, um das 20jährige Bestehen des Hauses der Solidarität zu feiern, vor allem aber sind sie zusammengekommen um Alex und seinen unermüdlichen Einsatz in und rund um das Haus hochleben zu lassen.
Doch für Rührseligkeiten bleibt zumindest während des Aperitifs keine Zeit. Das Programm des Abends ist straff und gut durchgetaktet. „Alle ausgetrunken? Gut, dann bitte ab auf die Wiese und so aufstellen, dass wir gemeinsam die Buchstaben H, D und S bilden.“ Keine allzu leichte Aufgabe, doch schließlich schafft die Drohne es ein Foto zu schießen. Und ich bekomme einen weiteren Eindruck davon, was mich an diesem Freitagabend erwartet: Das Haus der Solidarität ist nicht nur eine Institution, die ihresgleichen sucht. Es ist auch ein soziales Netzwerk im besten Sinn. Ein Netz aus Menschen, Gleichgesinnten und Geschichten, das die letzten 20 Jahre über geknüpft und beständig erweitert wurde.
2. Akt: Kompost und andere Geschichten
Ebendieses Netz steht im zweiten Teil des Abends im Vordergrund. Mittlerweile hat die gesamte Festgesellschaft im improvisierten Festzelt im Hof des Hauses Platz genommen. Es gibt Wein, Apfelsaft, Popcorn und Geschichten. Auf eine etwas trockene Präsentation über die Anfänge und Geschichte des Hauses, die mich persönlich eher mäßig interessiert hat, die aber auch hier (https://www.salto.bz/de/article/21022022/starthilfe-fuer-menschen-organisationen) noch einmal nachgelesen werden kann, folgt der Auftritt von Karl Leiter. Auch er ist langjähriger Wegbegleiter des Hauses, von Anfang an dabei, und gilt auch als der Geschichtenonkel im HdS.
Und genau das tut Karl an jenem Abend. Mit Hilfe dreier Kübel mit Kompost-Erde, erzählt er drei berührende Geschichten. Eine über eine der Vordenkerinnen des Hauses, eine starke Frau, die geholfen hat, das HdS zu erträumen und aus der Taufe zu heben, die aber kurz vor der Eröffnung des Hauses verstorben ist. Eine über Luis und Luzi Lintner, deren Geister noch immer im HdS zu wohnen scheinen. Und eine, die mich besonders berührt hat. Die Geschichte eines Bewohners, der das Haus unfreiwillig verlassen musste, der seinen Weg aber trotzdem gefunden hat, und der Hausleitung des HdS einmal in einer schweren Zeit beigestanden hat. Was Karl mit diesen Geschichten bezwecken wollte? Die Vordenkenden und Pioniere des Hauses ehren ganz klar. Aber auch eines aufzeigen: Das Haus ist wie ein Komposthaufen. Organisch gewachsen und fruchtbar.
Ich persönlich bin fasziniert von diesen Geschichten und von den vielen anderen, die ich im Laufe dieses Abends noch hören werde. Ich merke, dass für viele Anwesende das HdS nicht nur irgendein Projekt oder Ehrenamt ist, sondern ein beständiger Teil ihres Lebens, in den sie eine Menge Herzblut und Energie gesteckt haben und es immer noch tun. Und ich erwische mich dabei, wie ich mich im Laufe des Abends immer wieder von diesem leidenschaftlichen Engagement anstecken lasse. Wie ich mich frage, ob ich als Bloggerin, als angehende Journalistin, eigentlich genug tue, um all das, was im und ums Haus herum vor sich geht, zu kommunizieren. Ich höre an diesem Abend so viele Geschichten, die es wert wären, erzählt zu werden. Von Alex Vorliebe zur frittierten Melanzane, zur Geschichte der langjährigen Präsidentin des HdS, Petra Erlacher, die mitsamt ihrer Familie jahrelang im Haus gewohnt hat. Doch leider würde es den Rahmen dieses Artikels sprengen, sie alle wiederzugeben. Ich hoffe, ich komme irgendwann gesondert dazu.
Doch eigentlich bleibt mir auch gar keine Zeit, um darüber lange nachzugrübeln. Denn es stehen schon die nächsten zwei Programmpunkte an: Die Ehrung der Teamleitung und der langjährigen Ehrenamtlichen, die sich allesamt sehr demütig geben und nicht wirklich ins Rampenlicht wollen. Deshalb will ich darüber auch gar nicht viele Worte verlieren. Nur so viel: Anstelle des traditionellen Blumenstraußes gibt es Topfpflanzen und pro Kopf jeweils ein Bild, das die Hausbewohnenden gemalt haben. Hach!
Und dann ist da noch die Vorstellung von Alex letztem Geistesblitz: „Der unmögliche Baum“, ein Kurzcomic der Brixner Zeichnerin, Animatorin und Illustratorin Adina Bath. Der Baum ist – wie sollte es auch anders sein? – eine Metapher für das HdS, das unbequem ist und dennoch die Zuwendung und Unterstützung aller braucht. Ich persönlich finde ihn sehr gelungen und süß und bin nicht zum ersten Mal an diesem Abend erstaunt über Alex Ideenreichtum.Ideenreich, das sind auch die vielen Menschen, die das HdS in den letzten 20 Jahren in irgendeiner Art und Weise unterstützt, bewohnt oder gestreift haben. Das stellen sie auch in einem Video unter Beweis, das im Anschluss gezeigt wird. Dutzende Menschen haben per Video Grüße eingesandt, sogar der Landeshauptmann hat sich 10 Sekunden Zeit genommen. Manche lustig, andere sehr anrührend, und manche vielleicht nicht ganz glaubwürdig. Eine bunte Compilation der Hoffnung und der Freude über ein Projekt, das so viele für so lange für nicht möglich gehalten haben. Ich gebe zu, dass ich ein bisschen feuchte Augen bekomme.
Doch zum Glück ist Alex da, der die Stimmung wieder hebt. „Sonderausgabe, Sonderausgabe!“, ruft er und steht plötzlich wieder im Festzelt. Verkleidet als ein Zeitungsjunge aus dem vorherigen Jahrhundert.
Ich bin leicht verwirrt, doch diejenigen unter den Eingeladenen, die Alex gut kennen, reagieren amüsiert. Denn sie wissen, gleich passiert etwas Tolles! Und in der Tat hält Alex noch eine Überraschung bereit. Er hat sich als Schriftsteller versucht. In der Kurzgeschichte „Helfers Dachschaden“ lässt er seine Tätigkeit im HdS klug und mit viel Witz Revue passieren und spart dabei auch die schwierigen Momente nicht aus.
3. Akt: Ein einfaches Mahl
Bei all den Geschichten und Emotionen könnte man fast vergessen, warum wir eigentlich zusammengekommen sind: zum Essen natürlich. Der Koch lässt ausrichten, dass sich das Abendessen um ein paar Minuten nach hinten verschiebt. Es bleibt also genug Zeit, um das neueste Projekt des HdS vorzustellen: Das Fischerhaus in Vintl wurde saniert und bietet jetzt Platz für vier Wohnungen, in denen in Zukunft acht Menschen unterkommen sollen, die stabil genug im Leben stehen, um auszuziehen, die aber Probleme damit haben, einen regulären Mietvertrag zu bekommen. Das HdS wird daher als eine Art Zwischenstelle dienen und ebenfalls im Mietvertrag stehen. Doch nur für eine Weile. Sobald sie dann den eigenen Mietvertrag unterschrieben haben, steht das Fischerhaus für die Nächsten in selbiger Situation bereit und dient als Brückenstein für eine gelingende Inklusion.
Nach dieser hoffnungsfrohen Botschaft wird verkündet, dass das Buffet eröffnet ist. Endlich! Das Essen ist nicht sehr festlich, aber durchaus passend zum Anlass, schlicht, aber sehr lecker. Es gibt vegetarische Bratlinge mit Gemüse und Soße. Dazu Bier, Wein und Apfelsaft. Alle langen herzhaft zu, die Stimmung ist wieder gelöst und heiter. Irgendjemand hat Reggea-Musik aufgelegt und als der Abend hereinbricht, wird ein Feuer entzündet, um alle warmzuhalten. Der gemütliche Teil der Veranstaltung beginnt.
4. Akt: Understatement, your name is Alex
Und er beginnt lustig. Denn Alex‘ Weggefährten lassen es sich nicht nehmen, ihn noch einmal hochleben zu lassen und ordentlich auf die Schippe zu nehmen. Sie haben einen kleinen Sketch vorbereitet, in dem sie alles, was er für das HdS getan hat und seine vielen glorreichen, glanzvollen und manchmal ganz schön schrägen Ideen Revue passieren lassen. Der so Gelobte ist davon sichtlich gerührt. Aber auch ein bisschen peinlich berührt. Ich habe fast den Eindruck, dass ihm die ganze Aufmerksamkeit unangenehm ist. Denn bei all seinen kreativen Ideen und träumerischen Idealen ist Alexander Nitz auf den Boden geblieben. Will einfach nur Gutes tun. Oder wie Lisi Grießmair es in Anlehnung an Gandhi ausgedrückt hat: „Alex ist die Veränderung, die er selber in der Welt sehen will“.
5. Akt: Exit
Mittlerweile ist es ziemlich dunkel geworden und auch der Wind hat kräftig aufgefrischt. Ich bin satt, zufrieden und müde. Eigentlich sollte jetzt der Teil des Abends mit Live-Musik von einer Bozner Reggea-Band folgen, die derweil fleißig Soundcheck macht, doch das ist nicht wirklich meine Art von Musik. Dieser Abend hat mir außerdem eine Menge Stoff zum Nachdenken gegeben. Zum Beispiel über die Tatsache, dass ich zwar mein ganzes Leben in Brixen verbracht, aber das HdS nie so wirklich kennengelernt und wahrgenommen habe. Ob es anderen Menschen in dieser Stadt wohl auch so geht? Darüber, wie wichtig es ist, sich für seine Mitmenschen einzusetzen und was für einen Unterschied im Leben von Menschen dieser Einsatz machen kann. Darüber, wie ansteckend diese Art von Einsatz ist und dass ich selber gerne mehr tun würde. Und darüber, dass Institutionen wie das HdS keine Monolithen sind, sondern von den Menschen gemacht werden, die sie bevölkern und um sie herumschwirren. Das HdS ist eine lebendige Organisation, ja ich würde fast sagen, ein Organismus und ich bin froh, dass ich für einen Abend Teil davon werden durfte. Organisch gewachsen, da hat Karl Leiter ganz recht.
Ich bin so in meine eigene Faszination vertieft, dass ich fast nicht bemerke, wie mir auf dem Weg zum Parkplatz zwei Mitarbeitende des Weißen Kreuz entgegenkommen. Jemand ist auf der Feier gestolpert und gestürzt. Eigentlich ist das keine gute Nachricht. Doch irgendetwas daran bringt mich trotzdem zum Schmunzeln. Im HdS ist eben immer etwas los und helfende Hände werden immer gebraucht.