Politics | In schlechter Verfassung

Die Schlafwandler

Europa ist in Gefahr. Die Idee, es durch eine italienisch-deutsche Achse zu "retten", ist sympathisch, erscheint aber auch ein wenig weltfremd.
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Die Aussichten zum Jahreswechsel sind trübe, besonders wenn es um Europa geht. Als Aufhänger nehme ich den Artikel von Angelo Bolaffi, der am 15. 12. in der „Repubblica“ unter der Überschrift „Deutschland, Angelas Einsamkeit und das europäische Bewusstsein“ erschien. Bolaffi, der alte 68er und emeritierte Professor für Politische Philosophie an der römischen Sapienza, leitete bis 2011 das italienische Kulturinstitut in Berlin. Er ist einer der Wenigen, die sich dem Deutschland-Bild widersetzen, das in Italien gerade auch unter Intellektuellen beliebt ist: ein kaltes von der Austerität besessenes Machtzentrum, das Südeuropa in den Untergang treibt (siehe Bolaffis „Deutsches Herz. Das Modell Deutschland und die europäische Krise“, Klett-Cotta 1914).

„Angelas Einsamkeit“

Neuerdings scheint sich das Bild das Bild Angela Merkels in Italien zu wandeln. Bolaffi zählt auf, was nicht so recht zu ihrem bisherigen Image passt: Sie hielt Griechenland in der Eurozone; sie verhinderte im Ukraine-Konflikt dessen Zuspitzung und die Spaltung Europas; in der Flüchtlingsfrage schlug sie einen überraschend humanitären Kurs ein.

Angelo Bolaffi

                            Angelo Bolaffi

Obwohl Bolaffi Merkels Politik gegenüber dem Flüchtlings- und Terrorismusproblem „absolut pragmatisch“ nennt, die gegenüber Erdogan vieles aufs Spiel setze, sogar das eigene Ansehen, zeichnet er sie als Lichtgestalt. Den europäischen Hintergrund malt er umso düsterer aus: im Osten Ungarn, Tschechien, die Slowakei und Polen, die im Namen ihrer „nationalen Interessen“ gegen den „kulturellen Imperialismus Berlins“ wieder Mauern bauen. Im Norden Dänemark, dessen Stimmung so antieuropäisch ist, dass es per Volksabstimmung jede engere Zusammenarbeit mit der Polizei des Kontinents ablehnt (vom Plan, die ins Land kommenden Flüchtlingen sofort zu enteignen, wusste Bolaffi noch nichts). Im Westen Frankreich, in dem die Machtübernahme einer antieuropäischen Partei möglich ist. Und last but not least Großbritannien, das sich weiteren Einigungsschritten widersetzt, den freien Zuzug anderer europäischer Bürger verhindern will und den EU-Austritt erwägt.

Hilfsangebot aus Italien

Am Ende dieser Umschau schaut Bolaffi auch nach Süden: „Und Italien?“ Und da wird bei ihm der Wunsch zum Vater des Gedankens: „Unser Land könnte eine wichtige Rolle spielen, indem es die Einsamkeit Deutschlands weniger problematisch macht und den europäischen Zug, der zu entgleisen droht, wieder auf die richtigen Schienen setzt. Der Moment ist gekommen, den italienisch-deutschen Dialog und die Zusammenarbeit wieder aufzunehmen und nicht in steriler Polemik zu verharren“.

Der Wunsch ist sympathisch. Aber leider bedarf seine Analyse einiger Ergänzungen, die ihre Düsternis eher vertieft. Der erste Punkt betrifft Merkels auch von Bolaffi leuchtend gezeichnetes „Wir-schaffen-es“ in der Flüchtlingspolitik. Auch ich bewundere ihre Haltung gegenüber der „Obergrenzen“-Demagogie der CSU. Aber sie beugt sich diesem Druck letztlich doch, wenn sie ab sofort den Zustrom von Flüchtlingen schon dort blockieren will, wo er unseren Kontinent noch nicht erreicht hat: in den türkischen Flüchtlingslagern, ohne Rücksicht auf die dortigen Zustände. Wenn sie die Türkei wider besseren Wissens sogar zum „sicheren Herkunftsland“ erklären will. Und wenn sie den sog. „Khartum-Prozess“ unterstützt, der darauf zielt, die Flüchtlinge schon in Afrika festzuhalten, möglichst unter Einbeziehung der Regimes, vor denen die Menschen gerade fliehen. Die Verbrechen an den Flüchtlingen würden nicht verhindert, sondern nur an Orte verlegt, an denen sie für die hiesige Öffentlichkeit und hiesigen Gerichte weniger sichtbar sind.

Der zweite Punkt betrifft die Zukunft Europas. Wenn man jetzt einem Mann wie Erdogan außer Geld auch die Wiederaufnahme der Verhandlungen über ihren EU-Beitritt verspricht, bedeutet es den Verrat Europas. Denn es geschieht in dem Moment, in dem die Türkei die Pressefreiheit außer Kraft setzt und die Jagd auf die Kurden und die Opposition neu eröffnet. Eigentlich hätte man auch Polen und schon vorher Ungarn mitteilen müssen, dass ihr EU-Beitritt ein Missverständnis war. Wenn aber die EU jetzt auch noch um die Türkei erweitert wird, in einem Moment, in dem sie sich immer weiter von der Demokratie entfernt, wäre es das Ende der „europäischen Idee“. Europa wäre nur noch eine Allianz der Macht.

Ein neues Kerneuropa Italien – Deutschland?

Der dritte Punkt betrifft den Wunsch, Italien solle Deutschland in seiner europäischen „Einsamkeit“ zu Hilfe kommen. Bolaffi dürfte wissen, wieviel sperrige Wirklichkeit dem entgegensteht. Im italienischen Parlament haben die Europa-Befürworter zwar noch die Mehrheit, aber haben sie sie auch in der Gesellschaft? Von den drei großen politischen Lagern ist nur das Lager um die (gegenwärtige) Regierung pro-europäisch. Die fast ebenso starke 5-Sterne-Bewegung ist anti-europäisch, das dritte (rechte) Lager dominiert der Le Pen-Verehrer Salvini. Es spricht zwar einiges für die Idee, Europa vom „Kern“ her neu aufzubauen. Mit wem? Bolaffi denkt an das Tandem Italien – Deutschland. Aber Italiens Europa-Enthusiasmus hat sich abgekühlt, und Deutschland scheint bereit, Europa jedem zu verkaufen, der ihm die Flüchtlinge vom Leib hält.

Bolaffi erinnert an die „Schlafwandler“, die 1914 in den ersten Weltkrieg hineinrutschten, „ohne es überhaupt zu merken“. Und warnt, auch bei der politischen und kulturellen Demontage Europas könne bald der Punkt erreicht sein, von dem es kein Zurück mehr gibt. Ich fürchte, dass er damit Recht hat – mehr noch, als es seine eigene Analyse nahe legt. Als Hoffnung bleibt nur die Schnelligkeit, mit der gegenwärtig jede Prognose ihr Verfallsdatum erreicht. Man fährt auf Sicht. Vielleicht hat Europa noch Glück. Prosit 2016!