Ich wollte der Grafik ursprünglich ein Bild der Kirchturmspitze des Hauptortes Scuol hinterlegen, aber nein, biedere Kirchturmpolitik ist eben nicht die erhaltene Botschaft. Einen mit Geranien behangenen Erker in Guarda vielleicht mit sonnenbeschienenen, schneeweisen Bergen im Hintergrund? Damit hätte ich den Bogen zu hüben und drüben spannen können, genauso wie mit den verspielten Senter Giebeln, mit denen heimkehrende Gastarbeiter aus dem einst reichen Venedig dem Bergbauerndorf einen Anstrich von Bürger von Welt gegeben hatten. Nein, ich habe mich für die ehemalige Tiroler Burg Tarasp entschieden, weil ich finde, dass sich die Engadiner rüsten. Nicht rüsten im Sinne von Festung Schweiz, gegen uns gerichtet und von Manchen unsereins auch noch applaudiert, sondern schlicht und einfach rüsten für eine modernere Zukunft, eine effizientere Verwaltung, ein schlankeres Ego – und das Schöne dran: aus freien Stücken, ohne Feindbild, ohne unmittelbare Existenzängste. Klar ermuntert der Kanton dazu. Wenn ihr wollt, steht Tarasp symbolisch auch dafür, dass diese romanische Welt hinterm Ofenpass, hinterm Fuorn, uns doch so nah war, und wir heute, da die Welt immer kleiner wird, trotzdem so tun, als begänne hinter Altfinstermünz ein anderer Planet.
Gemeindenzusammenlegungen gab und gibt es mehrere in der Schweiz, gerade in Graubünden. Valsot ist ja auch erst vor wenigen Jahren aus Ramosch und Tschlin entstanden, Val Müstair aus Fuldera, Lü, Müstair, Sta. Maria, Tschierv und Valchava. Auch im Nonstal und anderswo gibt es sie, und Südtirol wird wohl auf kurz oder lang auch nicht davon verschont bleiben. Aber diese Aktion ist schon bemerkenswert: gleich sechs der Unterengadiner Gemeinden wollen sich zusammenschließen. Es wird noch gerungen, ob sich denn die neu entstehende Grossgemeinde nach der größten Ortschaft Cumün da Scuol taufen soll, oder selbstbewusster, identitätsstiftender und „zukunftssicherer“ gleich als Engiadina Bassa, ganz nach der Logik, dass sich ja sowieso die anderen Gemeinden früher oder später anschliessen werden. Vorerst stimmen Zernez, Lavin und Susch aber am 24. April über ihre eigene Fusion ab, die 2012 vergeblich um Guarda buhlten.
Ein gemeinsames Wappen wollte man vor der Abstimmung noch nicht entwerfen lassen, wäre es doch hinausgeworfenes Geld im Falle, dass sich der Souverän dagegen entschieden hätte. Ist ein Wappen nicht sowieso hinausgeworfenes Geld? Ist es eben nicht, weil nach dem Bündner Demokratieverständnis keine Symbolik den Eindruck erwecken soll, dass Scuol die Nachbargemeinden schlucken würde. Zelebrierte Augenhöhe mit Bedacht. Eines ist aber klar und wird auch ebenso selbstbewusst zur Schau gestellt: Amtssprache ist Vallader, also das Unterengadiner Romansch.
Gross wird die Gemeinde an Fläche. Mit 438km² wird sie auch die bisher grösste von Glarus-Süd (430km²) übertrumpfen. Wir sprechen hier aber nicht von grossen Populationen: die entstehende „Grossgemeinde“ wird etwa 4700 Einwohner (Update) haben, das sind mehr als die Hälfte aller Unterengadiner (Brail, Samnaun und Müstair mitgezählt). Der Engadiner Post sind folgende Abstimmungsergebnisse entnommen:
Bemerkenswert ist die doch eher schwache Wahlbeteiligung in Guarda. Keine 42%. Nichtsdestotrotz gehört es zum Schweizer Demokratieverständnis, dass Guarda mit von der Partie ist. Immerhin haben 93% der Hingegangenen dafür gestimmt. Da komme ich jetzt doch nicht umhin, den Bogen von unseren westlichen zu unseren südöstlichen Nachbarn zu spannen, wo für volksdemokratischen Willen ein Quorum von fünfzig Prozent nötig ist. Dort hat Comelico Superiore gerade über einen Regionenwechsel zu Südtirol abgestimmt und hat mit 913 abgegebenen Stimmen (37%) das Quorum von 1209 (also 50% der Stimmberechtigten plus eine Stimme) verfehlt. Dass 526 der 2416 Stimmberechtigten im A.I.R.E.-Register mit Auslandsadresse registriert sind und Fernwahl nicht ermöglicht wurde, wird so wohl nicht in die Geschichtsschreibung eingehen. Es hätten immer noch 33 Stimmen** gefehlt, aber mit Guarda hätte man locker mitgehalten.
Ob wir von den Schweizer Nachbarn mehr lernen sollten, als nur ohne scharfes S auszukommen?
**Nachtrag: "nur" 844 gültige Ja Stimmen, es hätten also 102 gefehlt.