Reden hilft
-
Die Begegnungen und Gespräche zwischen den Hauptveranstaltungen und abseits der großen Bühnen seien die spannendsten während des Forums, wurde mir öfter gesagt. Diese Einschätzung reimt sich mit einer meiner größten Einsichten nach sechs Jahren kritischer Sozialwissenschaften an der Uni: Was nicht gesagt, gezeigt oder geschrieben wird, zählt auch. In den 15 Tagen, die ich im „Europadorf“, im „schönsten Dorf Österreichs“, im „schönsten Blumendorf Europas“, in der „Kristallgemeinde“ Alpbach verbringen durfte, wurde in den zig Podiumsdiskussionen, Vorträgen, Buchvorstellungen und Themenwanderungen, die täglich zugleich stattfanden, über vieles gesprochen. Aber eben nicht über alles. Die humanitäre Katastrophe, die sich seit einem knappen Jahr im Gazastreifen abspielt, und das Risiko eines größeren Kriegs in der Region, fanden nicht auf die großen Bühnen. Abseits des offiziellen Programms wurden diese Themen sehr wohl angesprochen, beispielsweise während den sogenannten Kamingesprächen, die von Clubs und Stipendiatinnen und Stipendiaten selbst organisiert werden. Das zeigt, wie sehr die Lage in Nahost vielen von uns unter den Nägeln brennt.
-
Plädoyer für eine offene Debatte
Ein solches Kamingespräch gab Interessierten die Möglichkeit, in der Turnhalle der Volksschule mit einem jungen Mediziner palästinensischer Herkunft über die humanitäre Krise im Gazastreifen zu sprechen. Bei diesem Gespräch erfuhren wir auch von einem Teilnehmer aus der Region, nennen wir ihn Gabriel, dass eine kleine Gruppe bereits an einem offenen Brief an das EFA arbeite, um diese Programmlücke zur Sprache zu bringen. Wie so oft in Alpbach endete die Diskussion nicht, als wir die Turnhalle der nächsten Gruppe überlassen mussten, wir sprachen weiter, während wir gemeinsam zum Kongresszentrum wanderten. Dort blieb ich zufällig an einem der Stehtische, wo sich bald Gabriel und die einzige Teilnehmerin aus Israel, nennen wir sie Rachel, einfanden, um besagten offenen Brief fertig zu schreiben. Sie hatten mehrere Tage gemeinsam daran gefeilt, über Ansatz, Fokus und Ziel des Briefs diskutiert, jedes Wort sorgfältig abgewogen, manches gestrichen und anderes hinzugefügt, verzichtet, Lösungen gesucht und Kompromisse gefunden.
Wenn aber an einem Ort wie dem Europäischen Forum Alpbach über das Problem geschwiegen wird, verspricht das keinen Schritt in eine richtige Richtung.
Am Ende wurde daraus ein Plädoyer für eine offene, respektvolle und faktenbasierte Debatte über die skandalöse humanitäre Situation im Gazastreifen und die Gefahren für die palästinensische und israelische Zivilbevölkerung, im Rahmen des Europäischen Forum Alpbach. Wenn eine Gruppe von Leuten, die aus der Region kommen, und daher direkt betroffen sind, auf so einem Niveau über die Lage sprechen und auch noch etwas Gemeinsames erarbeiten können, dann muss das beim Forum allgemein auch möglich sein. Schließlich ist das Europäische Forum zu Recht stolz auf den Rahmen, den es schon seit Jahrzehnten allen möglichen Diskussionen bietet.
In den Eröffnungsreden wurde uns Stipendiatinnen und Stipendiaten zudem auch heuer wieder mitgegeben, dass wir auch unangenehme Debatten nicht scheuen dürften, mit allen reden sollten und unsere eigenen Überzeugungen infrage stellen müssten, denn nur so könnten wir eine Zukunft der freien Gesellschaft mitgestalten. Aber dann müsste man uns ebenso zutrauen, dass wir auch bei einem sehr sensiblen Thema dazu fähig sind, einander zuzuhören und konstruktive Schritte anzudenken. So wie wir es auch taten, wenn es um den Krieg zwischen der Ukraine und Russland ging, der glücklicherweise auch im Hauptprogramm Thema war. Freilich werden Gespräche in den Tiroler Alpen nicht unmittelbar zu einer Lösung für die Krise im Nahen Osten führen – wenn aber an einem Ort wie dem Europäischen Forum Alpbach über das Problem geschwiegen wird, verspricht das keinen Schritt in eine richtige Richtung.