Economia | Gastbeitrag

Schluss mit dem Tanz um Artikel 18

Der Tanz um das Totem Art. 18 muss beendet werden: Ein Plädoyer für den gelassenen Umgang mit nationalen Debatten und eine Südtiroler Politik der guten Arbeit.

Auf gewisse Weise gleichen sie dem Tanz um ein Totem - die medial gut inszenierbaren Debatten um den Art. 18, der abhängig Beschäftigte vor ungerechtfertigter Entlassung schützt. Fast entsteht der Eindruck, die wirtschaftlichen Zukunftsperspektiven des Landes hingen an der Lockerung des als rigid dargestellten Kündigungsschutzes. Sinnvoller und notwendiger wäre ein Nachdenken, warum Italien:

·       beim Index für soziale Gerechtigkeit der (liberalen!) Bertelsmann-Stiftung den Rang 23 aller 28 EU-Länder einnimmt,

·       beim „Doing business“-Ranking der Weltbank auf Platz 65, zwischen St. Lucia und Trinidad and Tobago, vorzufinden ist;

·       beim Index der empfundenen Korruption auf Rang 69 (bruch)landet, nach Montenegro und vor Kuweit.

Italien als Supermarkt der Arbeitsvertragsformen

Dass die vermutete unzureichende Flexibilität des italienischen Arbeitsmarktes Ursache für diese Einordnungen durch verschiedene ExpertInnenteams wäre, lässt sich nicht belegen. Der italienische Arbeitsmarkt gilt in Bezug auf die Arbeitsvertragsformen als einer der „flexibelsten“ in Europa. Je nach zugrundeliegendem Kriterium existieren 19 (Studienzentrum des gesamtstaatlichen Unternehmerverbandes Confindustria), 26 (Verband der italienischen Arbeitsrechtsberater) oder gar 46 unterschiedliche Arbeitsvertragsformen (CGIL).

Die OECD, die weltumspannende Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, misst mit einem eigens konzipierten Index den Schutz der Beschäftigungsverhältnisse („Employment Protection Legislation“-Index.) Auf einer Skala von 0 (niedrigster Schutz) bis  6 (höchster Schutz) liegt der Schnitt der OECD-Länder für das letzte verfügbare Jahr 2013 bei 2,29 (bei regulären Verträgen). Der Wert für Österreich liegt bei 2,44; der Wert für Italien beträgt - nach der jüngsten Reform des Art. 18 im Jahr 2012 - 2,79. Höhere Werte als Italien haben Frankreich, die Niederlande, Belgien. Und Deutschland, mit dem zweithöchsten Wert Europas: nämlich 2,98.

Produktivitätsentwicklung ade

Noch liegt Italien in diesem Bereich im oberen Segment, aber die Dynamik lässt im OECD-Vergleich nach. Und es gibt wohlweislich keine ExpertInnen und schon gar kein Gutachten, in dem eine Verschärfung des Kündigungsschutzes empfohlen würde, um die Performance des italienischen Arbeitsmarktes zu verbessern. Sehr wohl empfohlen wird eine Modernisierung der Arbeitsorganisation. Auch in diesem so zentralen Bereich ist Italien europäisches Schlusslicht. In einer umfangreichen, 2011 publizierten gesamteuropäischen Studie der EU-„Stiftung zur Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen“ rangiert Italien an 25 Stelle von 30 untersuchten Ländern. Die Verbreitung moderner Praktiken und Formen der Arbeitsorganisation wie flexible Arbeitszeitarrangements, finanzielle Leistungsanreize, systematische Weiterbildungsmaßnahmen, teilautonome Arbeitsgruppen und Mitsprache der abhängig Beschäftigten liegen weit unter dem europäischen Schnitt. Eine Folge: Italien weist gesamteuropäisch das niedrigste Wachstum der Produktivität auf.

Bruttosozialprodukt pro gearbeiteter Stunde (Jahr 2000 = 100)

Quelle: OECD (2013). Ausarbeitung: Antonioli, David | Pini, Paolo: Contrattazione, dinamica salariale e produttività: ripensare gli obiettivi ed i metodi, April 2013.

Arbeitspolitischen Neuorientierung überlebensnotwendig

Arbeits(markt)politisch braucht Italien eine Neuorientierung. Der Weg der externen Flexibilität durch die massive Deregulierung der Arbeitsvertragsformen hat sich als kontraproduktiv erwiesen: Anders als propagiert, haben sich die atypischen und zum großen Teil prekären – weil nicht sachgerecht eingesetzten - Arbeitsvertragsformen nicht als Sprungbrett in „stabile und sozial abgesicherte Beschäftigungsverhältnisse“ erwiesen, sondern als Weg in die Prekaritätsfalle. Ideologische Voreingenommenheit? Eben nicht: Zu diesem Schluss kommt eine aktuelle Studie der „Universitá degli Studi Roma Tre“, die im Auftrag des italienischen Ministeriums für Wirtschaft und Finanzen sämtliche Arbeitsmarktreformen seit 1997 auf ihre Effekte hin untersucht hat. Ernüchterndes Fazit: “Tuttavia considerando complessivamente i risultati deludenti emersi dall’analisi statistica condotta in questa ricerca, che copre un arco temporale di circa 15 anni, possiamo concludere che le riforme ‘parziali’ della legislazione sul mercato del lavoro hanno avuto l’effetto di accrescere la segmentazione del mercato e i recenti correttivi introdotti non sono stati efficaci nel migliorare l’accesso ad un lavoro stabile né nell’aumentare la probabilità di transizione dal lavoro temporaneo a quello permanente.” (Di Domenico G., Scarlato M., “Valutazione di interventi di riforma del mercato del lavoro attraverso strumenti quantitativi”, S. 80 f.)

Hin zu einer Südtiroler Politik der guten Arbeit!

Südtirol kann nicht für die gesamtstaatlichen Defizite bei der Regelung zentraler Politikbereiche verantwortlich gemacht werden – etwa im Bereich des individuellen und kollektiven Arbeitsrechts, der überbordenden Bürokratie und der unzureichenden Rechtssicherheit. Die Südtiroler Politik, aber auch die Gewerkschaften und Unternehmerverbände haben sich allerdings bisher zurückgehalten, wenn es darum gegangen ist, eine Arbeitspolitik zu betreiben. Sehr wohl wurde und wird Arbeitsmarktpolitik betrieben: beispielhaft der Ausbau und Professionalisierung der Arbeitsvermittlung, eine gute Arbeitsmarktbeobachtung, die flankierenden sozialpolitischen Maßnahmen. Auch die Kollektivvertragsparteien haben interessante Landeszusatz- und Betriebsabkommen abgeschlossen, wie auch Solidaritätsverträge in Zeiten der Krise unterzeichnet. Sie führen gemeinsam funktionierende Einrichtungen wie die bilateralen Körperschaften. Die im Wesentlichen aufrecht erhaltenen Fördermaßnahmen an Betriebe, die Innovation und Weiterbildung betreiben, die herausragende öffentliche berufliche Aus- und Weiterbildung und diverse öffentliche Forschungs- und Supporteinrichtungen sind nicht nur im gesamtstaatlichen Vergleich Exzellenzen.

Was also tut not? Eine Bündelung dieser unterschiedlichen gewerkschaftlichen, unternehmerischen und politischen Handlungsfelder zu einer „Südtiroler Politik der guten Arbeit“. Anders als von den Betrieben und öffentlichen Verwaltungen Italiens vorexerziert, muss auf interne und organisatorische Flexibilisierungs- und Modernisierungsprozesse gesetzt werden. Notwendige Flexibilität darf nicht vorrangig an atypisch und prekär Beschäftigte ausgelagert werden. Dies setzt Know how, Pilotprojekte und Vertrauen zwischen allen Akteuren voraus: Wie lässt sich in Kleinbetrieben Arbeit besser organisieren? Wie können Betriebe besser kooperieren? Wo gibt es Denkfreiräume und Platz für Innovation? Wie kooperieren öffentliche und private Einrichtungen, um Wissen zu erarbeiten und zu verbreiten? Welche Kompetenzen, welche Formen des Lernens sind zielführend? Wie können diese systematisch gestaltet werden? Wie professionell sind Führung und Management? Auf welche Art und Weise wird die Mitwirkung der abhängig Beschäftigten gewährleistet? Wie kann ein solch komplexes System gesteuert werden?

Utopisch? Mitnichten. Insbesondere die skandinavischen Länder, aber zum Teil auch Österreich und Deutschland haben diesen Entwicklungspfad schon vor Jahren eingeschlagen. Nur auf diese Weise kann sich in Südtirol (wie übrigens auch in Italien) ein Arbeitsmarkt entwickeln, auf dem es sehr wohl „Flexibilität“ gibt, die sich aber nicht in einer Vernichtung, sondern in einer Steigerung von Human- und Sozialkapital der Arbeitskräfte äußert. In welchem neue Berufsbilder entwickelt werden. In welchem lebenslanges Lernen selbstverständlich ist. Interne Flexibilität und gute Arbeitsbedingungen, durch welche garantiert ist, dass die Beschäftigungsfähigkeit – das heißt die Attraktivität für den Arbeitsmarkt – der Beschäftigten auch im fortgeschrittenen Alter noch gegeben ist.  Die in hohem Ausmaß ideologisch und entgegen jeglicher sachlicher Grundlage geführte Diskussion um die vermeintlichen „Rigidiäten“ auf dem italienischen Arbeitsmarkt und den Art. 18 verstellt den Blick auf die wahren Herausforderungen.

Werner Pramstrahler ist Forschungsmitarbeiter im AFI | Arbeitsförderungsinstitut. Der Beitrag gibt  die persönliche Meinung des Autors wieder. 

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Michael Bockhorni Sab, 10/04/2014 - 16:09

Flexibilität muss für beide Seiten möglich sein. Dafür braucht es ein Recht auf Arbeitslosengeldbezug auch bei Selbstkündigung. Vielleicht steigt damit auch die Produktivität (ein wenig), wenn aus einer inneren Kündigung auch eine tatsächliche wird. Gerade wenn sich der Arbeitsmarkt verschlechtert, die neuen Arbeitsverhältnisse prekär sind und die Arbeitsbedingungen durch Krise und Stagnation schlechter werden.
Als österreichischer Arbeitnehmer habe ich mich nicht ungeschützt gefühlt, wenn es viermal im Jahr die Möglichkeit des Arbeitgebers gab, mich mit mit mind. 6 Wochen Vorankündigung fristgerecht (ohne Angabe von Gründen) zu kündigen. Andererseits hatte ich die Möglichkeit jederzeit zu Monatsende zu kündigen und hatte nach 4 Wochen Anspruch auf Arbeitslosengeld dessen Obergrenze ca. bei 1300 € netto liegt.

Sab, 10/04/2014 - 16:09 Collegamento permanente