Books | salto books

Selbstbehauptung

Leseprobe aus: „Opa, erzähl mir“ von Markus Zwerger (Edition Raetia)
salto books Opa
Foto: Raetia / salto books

„Ich habe überall Kollegen!“

Am liebsten erzählt Opa von seiner Kindheit, die Geschichten scheinen ihm nie auszugehen. Und wenn dem doch so ist, erzählt er einfach eine bereits bekannte erneut. Zuhörer können bei jeder einzelnen seinen Stolz heraushören, der vom Bestehen großer Widrigkeiten herrührt. Seine Kindheit war alles andere als unbeschwert, geprägt von gesellschaftlicher Ächtung und wiederholten Ortswechseln. Weiters machte ihm die Armut zu schaffen, die ihn von Unterkunft zu Unterkunft verfolgte. Der Unterschied zwischen allgemeiner gesellschaftlicher Geringschätzung oder Heimatlosigkeit und Armut lag für ihn darin, gegen Letztere persönlich etwas unternehmen zu können. So lernte Arthur bereits in jungen Jahren, wie man sich seinen Platz in der Gesellschaft erkämpft. Das Gelingen dieses Unternehmens ist der Grund für seine meist selbstbewusst widerhallende Stimme beim Erzählen aus seinen Kinderjahren:

„An Freunden mangelte es mir nie. Das lag daran, dass sie wussten, mich rufen zu können, wann immer sie in Schwierigkeiten geraten waren. Aus diesem Grund geriet ich in jungen Jahren in viele Raufereien. Ich klärte die Angelegenheiten meiner Freunde und ließ mir dabei von niemandem etwas gefallen, denn ich war ein kräftiger Junge, der wusste, wie man sich wehrt! Schon auf dem täglichen Schulweg war meine Kraft gefordert, weil mein Freund, ein reicher Bauernsohn, mit anderen stets irgendwelche Konflikte am Laufen hatte. Sein Problem lag nun darin, dass er diese nie alleine bewältigen konnte. Also stand ich ihm zur Seite und löste die Schwierigkeiten. Die tägliche Arbeit hat mich gestärkt, mein Körper tat mir gute Dienste! Und für meine guten Dienste entlohnte man mich. Die Eltern dieses Freundes besaßen ein Geschäft im Dorf, das allerhand Waren führte. Da kam es natürlich gelegen, beim Sohn des Besitzers einiges gutzuhaben. Ihm war es nämlich erlaubt, ins Geschäft zu spazieren und mitzunehmen, was sein Herz begehrte. Somit konnte ich bei ihm bestellen und er besorgte es mir. An ein Geschenk erinnere ich mich ganz besonders: Hosenträger der Marke ‚Herkules‘. Das war die damals beste Ware auf dem Markt und dementsprechend kostspielig. Du kannst dir denken, was ihr Tragen in mir bewirkte. Ab dem Moment, in dem sie mir übergeben wurden, zog ich sie an und anschließend lange Zeit nicht mehr aus, nicht einmal nachts! Der Besitz dieses Kleidungsstücks ließ meine Brust anschwellen und mich erhobenen Hauptes durchs Dorf spazieren, damit jeder sie bestaunen konnte.“

Diese Form des Wohlstandes, selbst erarbeitet und redlich verdient, sicherte meinem Opa für kurze Zeit die Blicke derer, die er womöglich tagtäglich wegen ihres Reichtums bewunderte und beneidete. Wegen ihrer Familien. Wegen ihres Essens. Vielleicht allein schon wegen ihrer Kleidung.

Wollte man seinen damaligen Alltag mit heute vergleichen, könnte man sagen: Arbeit war sein persönliches Workout, also das, wofür wir heute ins Fitnessstudio gehen. Mit dem Unterschied, dass er anstelle des Bankdrückens und Gewichthebens kiloweise Holz oder zentnerschwere Mehlsäcke schleppen musste und seine Ausdauer nicht auf dem Laufband, sondern auf dem Feld trainierte. Seinen Körper entwickelte er so zu einem nützlichen Werkzeug, das ihm dabei half, seinen Platz zu behaupten. Doch auch eines seiner Talente verstand er weidlich zu nutzen:

„Schon als kleiner Bub begann ich mit dem Handel. In der ersten Klasse der Grundschule fing ich damit an und entwickelte mich ständig fort. Tiere wurden schon bald meine primäre Handelsware. Hauptsächlich zog ich Schafe, Hasen und Hennen auf, um sie anschließend gegen etwas anderes einzutauschen. Mein Geschäft florierte über Jahre. In der folgenden Zeit änderte sich die Nachfrage etwas und wurde größer, weshalb ich mich anpassen musste, mein Sortiment erweiterte und mehr Zeit investierte: Manches Mal schwänzte ich die Schule, um mit einem Freund ins benachbarte Tal aufzubrechen. Dort pflückten und sammelten wir bestimmte Pflanzen, die geraucht werden konnten und bei allen Schülern beliebt waren. Dafür erhielt ich dann belegte Brote oder andere Dinge wie etwa Farben, die ich wiederum weitertauschte.“

 

 

Ich finde es erstaunlich, wie vielfältig der Mensch sich zu helfen versteht, wenn die Not es erfordert. Der Kreativität sind bekanntlich keine Grenzen gesetzt, die Möglichkeiten des Einzelnen sind trotzdem beschränkt. Jeder Mensch kann bis zu einem gewissen Grad autonom sein und ist trotzdem hin und wieder auf Hilfe angewiesen. Das Beispiel meines Großvaters zeigt eindrücklich, dass auch höchst unabhängige Menschen manchmal der Hilfe bedürfen:

„Als ich als Sechzehnjähriger beim Köchel arbeitete und lebte, hatte ich einen guten Freund, den zwei Jahre älteren Learner Luis, den ich aus der Schule kannte. Er war ein Bauernsohn und er wusste um meine dürftige Ernährung. Deshalb wollte er mir regelmäßig etwas zu essen schenken, was seine geizige Mutter jedoch verbot. Trotzdem fand er einen Weg: Pünktlich zum Einbruch der Nacht stand ich unter seinem Haus und er warf mir einen aus dem Vorrat seiner Mutter gestohlenen Laib Brot zu. Dafür bin ich ihm seit jeher unendlich dankbar!“

Die Intensität, mit der sich Opa an diese Tat erinnert, zeigt mir, wie wertvoll jede Freude und Achtsamkeit ist, die man in die Welt entlässt. Ein ganzes Leben später erinnert er sich noch daran, als wäre es erst geschehen. Die Bedeutung einer guten Tat, mag sie auch noch so unscheinbar anmuten, lässt sich nicht einschätzen.

„Aufgrund der bitteren Armut, die wir beim Mösl litten, war ich immer wieder gezwungen, mir mein Essen anderswo zu besorgen. Die Hilfe mancher Freunde war Gold wert, vertrieb den Hunger aber nur für kurze Zeit. Deshalb hielt ich meine Augen stets offen und bereitete mich vor, eine Gelegenheit am Schopf zu packen, wenn sie sich böte. Eine sollte sich dann auch bieten: Als ich ungefähr sieben Jahre alt war, bemerkte ich, dass die Bewohner des Tschuaggen- Hüttels ihren Hunden jeden Tag Knochen mit dranhängenden Fleischresten vom Fenster aus zuwarfen. Sobald ich das verstanden hatte, war ich, von Hunger getrieben, in der darauffolgenden Zeit – vielleicht waren es gar Jahre – immer vor Ort, um meinen Anspruch geltend zu machen. Zu Beginn musste ich mir meinen Platz unter den Hunden erkämpfen, was mir schon bald gelang, sodass die Hunde anschließend davon abließen, mir meine ergatterten Essensreste streitig zu machen. Dies führte so weit, dass sie sich an mich gewöhnten und wir uns regelmäßig ein Mahl teilten. Ja, sie kannten mich gut und mochten mich gern!“

Es ist schwierig, die Dramatik dieser Geschichte darzulegen, ohne ins Pathetische zu verfallen, denn davon war Opa weit entfernt. Wenn man darüber nachdenkt, erkennt man allerdings die erschreckende Wahrheit: Arthur musste unter Tieren sein Recht behaupten. Denn die Reste, die andere wegwarfen, ließen ihn etwas besser leben.

„Gekämpft habe ich viele Jahre lang, natürlich zählen dazu auch Raufereien in Dorfkneipen. 1956, kurz nach unserem Umzug nach Welschnofen, kam es mal zu so einer: Sowie ich zum ersten Mal ins Dorflokal ging, wurde ich von einem der Anwesenden blöd angemacht: ‚Habt ihr Hessen [Deutschnofner] bei euch nichts mehr zu fressen, dass ihr zu uns kommt?‘ Das konnte und wollte ich mir natürlich nicht gefallen lassen, weshalb ich kurz angebunden antwortete: ‚Wenn irgendeiner hier etwas von mir will, dann gehen wir vor die Tür!‘ Da war der andere auch schon draußen und ich dachte mir: ‚Was hast du nur getan?‘ Schließlich war ich alleine in einem fremden Dorf in augenscheinlich hoffnungsloser Unterzahl! Weil ich ein Mann des Wortes bin, machte ich mich wider alle Zweifel auf und ging ebenfalls hinaus. Noch bevor ich überhaupt ganz draußen war, saß mir mein Gegner bereits im Nacken. Da ich auch als Erwachsener recht kräftig war, zögerte ich nicht und wirbelte ihn teuflisch herum! Indes machte ich mich bereit, von anderen Dorfbewohnern angegriffen zu werden, die sich den Kampf zu vielen anschauten. Sie begnügten sich allesamt jedoch mit dem Zuschauen, was mich sehr erstaunte, mir aber klarerweise recht war. Deshalb dauerte es nicht lange, bis ich den Kampf gewonnen hatte. Abschließend sahen wir beide uns an und ich entschloss: ‚So, und nun gehst du mit mir hinein etwas trinken!‘ Der Gefährte nahm dieses Angebot gleich an und wir begaben uns wieder ins Lokal, um anzustoßen. Das Übel war damit aber noch nicht abgewandt, wie man meinen könnte: Zwei in der Kneipe sitzende Carabinieri waren auf mich aufmerksam geworden, kamen auf mich zu und befahlen: ‚Adesso vieni in caserma con noi!‘ Auch nach all den Jahren regt mich ihr Verhalten unfassbar auf, weil sie den ganzen Tag nur in der Bar saßen und Mädchen anschauten, obschon sie das im Dienst nicht hätten tun dürfen! Dennoch blieb mir nichts anderes übrig, als zu gehorchen und ihnen in die Kaserne zu folgen. Dort mussten sie zuallererst den Maresciallo wecken, da es bereits spät am Abend war und nur er mir eine Strafe hätte ausstellen dürfen. Während ich also auf ihn wartete, zog ich den Gürtel und die Schuhbänder aus, weil man diese in einer Zelle, in die gesteckt zu werden ich mir sicher war, nicht tragen durfte. Bald kam er auch schon und sah mich verdutzt an: ‚Arturo, cosa fai qui?‘ Man muss wissen, wir kannten uns, da ich ihm bei einem Umzug behilflich gewesen war, weshalb er mir wohlgesinnt war. Nach Klärung der Umstände entschied er, ich dürfe nach Hause gehen. Ich zog mich also an und während ich mich dem Ausgang zuwandte, sagte ich noch zu ihm: ‚Nach Hause gehe ich nicht. Ich gehe dorthin, von wo ich gekommen bin. Ich kehre in die Bar zurück!‘“

Abschließend ist zu erwähnen, dass aus Arthurs Streitpartner anschließend sein „bester Freund“ (einer von vielen) wurde.

Das Leben bietet einem Menschen viele Möglichkeiten, seinen Platz zu behaupten, und die Wege, um Anerkennung und Standhaftigkeit zu erreichen, sind mindestens genauso vielfältig:

„Indem ich in meiner Jugend und in den ersten Jahren als Erwachsener immer nur gearbeitet und kaum etwas vom verdienten Geld ausgegeben hatte, hatte ich nach bestandener Führerscheinprüfung und Beendigung der Zeit beim italienischen Militär, also um das Jahr 1950, noch etwas Geld übrig. Ich wusste genau, wozu ich es verwenden wollte. Also begab ich mich auf die Suche nach einem Auto. Vor den Toren eines Autohändlers traf ich dabei zufällig einen Brixner Tierarzt, der gerade seinen Fiat 1100 verkaufen wollte. Wir kamen ins Gespräch, wobei er mich mehrmals fragte: ‚Gefällt dir das Auto?‘ Ich bejahte. ‚Wenn es dir gefällt, dann verkaufe ich es dir und nicht dem Händler. Ich gebe es dir um denselben Preis, den mir der Händler geboten hat. Bist du damit einverstanden?‘ An den genauen Preis kann ich mich nicht mehr erinnern, aber er passte ungefähr in mein Budget und wir schlossen den Handel ab. Zumal ich nicht imstande war, alles gleich zu bezahlen, versicherte er mir:

‚Du musst mir das Geld nicht sofort geben, zahl, sobald du kannst.‘ Er vertraute mir voll und ganz und fuhr nach abgeschlossenem Handel zurück nach Brixen. Dieses Geschäft verschaffte mir also ein Auto. Und so fuhr ich als erster Deutschnofner nach dem Bürgermeister in einem Auto herum. War das eine Genugtuung! Die Schulden versuchte ich schnellstmöglich zu begleichen, weshalb ich in den folgenden Monaten mehrmals nach Brixen fuhr, um dem Tierarzt sein Geld zu bringen. Schon bald hatte ich sie auch abbezahlt, wenngleich mein Verkäufer öfters meinte, die Zeit eile nicht und ich müsse ihm das Geld nicht so schnell zurückgeben. Aber mir war der Gedanke zuwider, jemandem etwas zu schulden. Deshalb versuchte ich ein Leben lang, meine Schulden immer schnellstmöglich loszuwerden.“

Der Grund, warum ich diesen Teil der Geschichte meines Großvaters in dieses Kapitel aufgenommen habe, ist der, dass dieses Ereignis einen Wendepunkt in seinem Leben darstellt: Seine Lage wird besser, er kann materiellen Reichtum anhäufen und sich so auch die Anerkennung derer holen, die mehr auf Schein als auf Sein bedacht sind. Diese Phase ist wahrscheinlich die erste seines Lebens, in der er nicht mehr dem Fortschritt hinterherhinken muss und der Letzte sein muss, der etwas besitzt. Nein. Er ist der Erste. Was mag es wohl für ihn geheißen haben, erstmals etwas mehr zu besitzen als die großen Bauern, von denen ihn manche jahrelang verachtet haben? Was mag es ihm wohl bedeutet haben, etwas Neueres, vielleicht Wertvolleres zu besitzen als jene, die ihm jahrelang seine vermeintliche Wertlosigkeit vor Augen geführt haben?

 

 

Ein für mich äußerst interessanter Aspekt ist das erstaunliche Maß an Vertrauen, das der Tierarzt Arthur entgegenbrachte. Ich weiß nicht, ob Menschen früher einander eher vertrauten als heute, aber ein solches Verhalten sucht heute mit Sicherheit seinesgleichen. Wie im Laufe der bisherigen Erzählung vielleicht deutlich geworden ist, versuchte mein Opa von Kind an alle Menschen von sich zu überzeugen, ihnen seinen Wert zu beweisen. Oft musste er sich jedoch eingestehen, dass die Leute ihn eher für die Umstände seiner Geburt als für sein Wesen bewerteten. Er musste nicht selten erkennen, dass es ebendiesen Umständen geschuldet war, dass er für manche Leute lebenslang ein Geächteter sein würde. Schmerzvoll erinnert er sich als Neunzigjähriger daran, wie er sogar noch als erwachsener, gestandener Mann für den vermeintlichen Fehltritt seiner Eltern büßen musste:

„Als ich rund siebzig Jahre alt war, fand in Leifers die Beerdigung eines in Deutschnofen aufgewachsenen, später in Leifers lebenden Mannes statt. Diesen kannte ich gut, da er ungefähr im gleichen Alter wie ich gewesen war, wir also in dieselbe Schule gegangen waren. Einige Deutschnofner aus meiner Generation, die ich alle kannte, erschienen zur Beerdigung. Im Anschluss an diese lud ich sie in meinen Keller, den noch heute allerlei ausgestopfte Tiere schmücken, zu einem Schmaus ein. Ich führte sie also zu mir nach Hause und auf dem Weg dorthin wurde viel gesprochen und erzählt. Einer der Deutschnofner fragte dann einen anderen plötzlich und laut genug, dass man es hören konnte: ‚Ach, gehen wir also zu diesem Ledigen?‘ Er behandelte mich genau so, wie ich in der Kindheit aufgrund meiner unverheirateten Eltern behandelt worden war, für ihn hatte sich nichts geändert. Für mich hingegen schon, denn ich war mittlerweile erwachsen, ja alt, und um kein Wort verlegen. Aus diesem Grund antwortete ich ihm unmittelbar: ‚Nein, mach dir keine Sorgen, ich bin schon verheiratet!‘ Ohne dem etwas hinzuzufügen, ging ich weiter, bald hatten wir mein Haus erreicht. Dort versorgte ich sie mit Speis und Trank, so lange, bis es graute und wir uns verabschiedeten. Ach, was solls?“

Lächeln.

Das Leben hat meinen Großvater zur Schlagfertigkeit erzogen. Denn geschlagen hat es ihn oft, und er hat gelernt, darauf vorbereitet zu sein. Diesen Vorfall konnte er mit Humor nehmen, im Kopf blieb er ihm dennoch für den Rest seines Lebens. Was sagt Opas Reaktion auf die Aussage dieses oberflächlichen Mannes über ihn selbst aus? Was heißt es, seine Verletzbarkeit solchen Menschen, die danach lechzen, nicht zu zeigen und ihnen diese Genugtuung nicht zu gönnen?

Überhaupt: Was bedeutet es für einen Menschen, seinen Platz in einer Gesellschaft, die einen verstoßen will, erfolgreich zu behaupten?