Politica | ESF-Skandal

"Wer kann sich noch ESF-Kurse leisten?"

Von Erleichterung kann in der Causa ESF trotz Zahlungen keine Rede sein. Voraussichtlich im Frühjahr wird Brüssel Südtirols ESF-Projekte systematisch durchleuchten.

Zumindest in einem Punkt kann die Direktorin der Urania Meran Marlene Messner beruhigen: „Die Urania wird es weiter geben“, sagt sie. „Wir haben mehr als 90 Jahre überlebt, deshalb sind wir schon zuversichtlich, dass wir auch diese schwierige Zeit durch stehen werden.“ Die Schwierigkeiten der Meraner Weiterbildungseinrichtung hängen derzeit wie jene vieler anderer Vereine und Organisationen im ganzen Land mit drei Buchstaben zusammen: ESF. Knapp 20 Projekte, die aus den Geldern des Europäischen Sozialfonds finanziert werden sollten, hat die Urania in der letzten Periode 2007 bis 2013 organsiert. Tatsächlich abrechnen konnte sie bislang aufgrund der bekannten Probleme nur einen Bruchteil – und das obwohl bislang keiner der Lehrgänge für Langzeitarbeitslose oder Wiedereinsteigerinnen ins Berufsleben ins Visier der EU-Auditoren gekommen ist. „Ich finde, eine Verwaltung kann nicht riskieren, dass Organisationen einfach draufgehen, obwohl sie alles ordnungsgemäß gemacht haben“, sagt die Direktorin der Urania Meran, „genauso wie sie es eigentlich nicht verantworten sollte, dass Projekte gerade in dem Moment zurückgefahren werden, in denen die Jugendarbeitslosigkeit und die Armut ansteigen.“

"Eine Verwaltung kann nicht riskieren, dass Organisationen einfach draufgehen, obwohl sie alles ordnungsgemäß gemacht haben."

Die Meldung vom gestrigen ESF-Untersuchungsausschuss, dass noch im Dezember 50 Projekte ausbezahlt werden und im Jänner 50 weitere folgen werden, beruhigt die Weiterbildungsorganisationen im Land nur bedingt. Immerhin gab es im Zeitraum 2007 bis 2013 insgesamt 660 Projekte. Für nur 345 davon liegen dem Amt derzeit Endabrechnungen vor, wie der neue Abteilungsdirektor Graziano Molon auf Nachfrage von salto.bz. erklärt. Und: Die nun angekündigten Auszahlungen sind laut dem Abteilungsdirektor nur zum Teil Endabrechnungen. In anderen Fällen  handelt es sich dabei auch um Zwischenabrechnungen oder Vorschüsse, die gegen Vorlage einer Bankgarantie gewährt werden.

Ein Entgegenkommen angesichts der Liquiditätsengpässe vieler Weiterbildungsorganisationen, die der Dachorganisation proWeiterbildung bereits nach einem gemeinsamen Brief an die Landesregierung vor zwei Wochen in Aussicht gestellt worden war. „Doch auch Bankgarantien bringen wieder neue Kosten mit sich“, sagt der Vorsitzende von proWeiterbildung Oswald Rogger. „Viele unserer Mitglieder müssen bereits derzeit teuer für Kredite zahlen, mit denen die Kurse vorfinanziert wurden.“ So wie die Urania Meran, die bis heute allein mit den Zinsen für Kreditlinien und Überziehungsrahmen 300.000 Euro in der Kreide steht. Sollte sich bei den laufenden Überprüfungen jedoch herausstellen, dass die EU-Kommission die Kosten aus irgendeinem Grund nicht anerkennt,  müssten die Vorschüsse wieder zurückgezahlt werden. „Und die Organisationen hätten erst recht ein Riesenproblem“, wirft Rogger ein.

Systematische Kontrolle durch Brüssel im Frühjahr 2015

Von Entspannung kann vor einer definitiven Absegnung der Projekte durch die EU also keine Rede sein. Auch für den Abteilungsdirektor Molon ist es derzeit schwierig zu sagen, wie vielen Projekten diese letztendlich verweigert wird. „Man muss die Projekte einzeln kontrollieren und bewerten“, sagt er. Vor allem aber würden sich die noch offenen Projekte in verschiedenen Phasen befinden; manchen seien bereits abgeschlossen andere noch am Laufen oder in der Anfangsphase. Mehr Gewissheit wird es laut Graziano Molon erst nach einer systematischen Audit-Kontrolle durch die EU-Kommission geben, die voraussichtlich im Frühling 2015 stattfinden wird. Eine Forfait-Lösung, wie sie Landeshautpmann Arno Kompatscher in der Antwort auf eine Anfrage der Grünen in Aussicht gestellt hat, sei damit aber noch nicht vom Tisch, lässt der Direktor der Abteilung Europa verstehen. Demnach könnte Brüssel zur Sanierung der unglücklichen Causa die Rückzahlung eines Prozentsatzes der gesamten Fördersumme fordern. Laut Kompatscher wären bis  zu 25 Prozent  möglich; bei einem gesamten Fördervolumen von 160 Millionen Euro wären das immerhin 40 Millionen Euro.

Wer bleibt im Regen stehen?

„Wenn solche Rückzahlung aufgrund schlechter oder falscher Informationen der Beamten notwendig werden, sollte das Problem schon vom Land selbst bereinigt werden“, findet Oswald Rogger. Eine Vorkehrung dafür hat der Landtag im Herbst bereits im Omnibus-Gesetz getroffen – mit einem Rettungsschirm für alle Projekte, die ordnungsgemäß belegt und deren Aktivitäten „in rechtlicher Konformität, vollständig und korrekt umgesetzt“ sind. Doch auch abgesehen von den Projekten, bei denen derzeit strafrechtlich ermittelt wird, könnten auch zahlreiche andere Projektträger im Regen stehen bleiben. Vor allem weil die rechtliche Konformität von ESF-Projekten mittlerweile ein relativer Begriff ist. Da ist auf der einen Seite eine extrem komplexe gesetzliche Materie mit europäischen, nationalen, regionalen und lokalen Quellen; auf der anderen Seite würden die EU-Kontrolleure heute andere Maßstäbe ansetzen als noch bei Genehmigung so manchen Projektes vor ein paar Jahren, sagt ein Insider. Dazu gesellen sich weitere Ingredienzien wie ein personalmäßig unterbesetztes Amt, der Appetit, den ein millionenschwerer Kuchen macht, oder auch eine ESF-Kommission, in der die Vertreter der großen Verbände ihre eigenen Projekte begutachtet haben. „Bislang ist es der Verwaltungsbehörde nicht gelungen, bei allen Projektträgern eine systematische und strikte Anwendung der geltenden Regeln zu erwirken, auch wenn diese bereits seit 2007 in Kraft sind“, wird die Direktorin des ESF-Amtes Judith Notdurfter im Protokoll einer Sitzung des ESF-Begleitschausschusses am 6. Juni 2013 zitiert. Kurz davor hatten sie und der damalige Abteilungsdirektor Thomas Mathà Morddrohungen erhalten. Als Hintergrund wurden damals nicht genehmigte Projekt vermutet.

Vorbild Trentino

Wer trägt die Verantwortung für den ESF-Skandal, wer muss einspringen, wenn Brüssel Gelder nicht zahlt oder zurückverlangt? Von Antworten darauf ist auch der ESF-Untersuchungsausschuss im Landtag noch meilenweit entfernt. Mehr Aufklärung erhofft man sich dort von der nächsten Sitzung im Jänner, in der Barbara Repetto, Judith Notdurfter und Thomas Mathà angehört werden sollen. Auch Oswald Rogger vom Dachverband proWeiterbildung mutet sich in der komplexen Causa kein endgültiges Urteil zu. „Was ich dagegen weiß“, sagt er, „ist dass die ESF-Kurse im Trentino sehr erfolgreich durchgeführt werden und dort die Situation wesentlich entspannter und ohne die große Unsicherheit abläuft, die einigen unserer Projektträger ganz schlimme Probleme bringt.“ Wie auch Marlene Messner von der Urania Meran. Was sie sicher weiß? „Wir werden künftig sicherlich keine neuen ESF-Kurse mehr durchführen“, sagt die Urania-Direktorin. „Und wenn ich sehe, welchen zusätzlichen Aufwand die neuen Kriterien bringen, frage ich mich, wer sich ESF-Projekte in Zukunft überhaupt leisten kann oder will.“