Wenn sich neue Türen öffnen
“Ich erlaube mir an dieser Stelle etwas zu tun, was ich normalerweise vermeide: meinen persönlichen Zugang zu erklären.” Dass Arno Kompatscher bei diesem Termin dabei sein wollte und sich ungewohnt emotional äußerte, hat damit zu tun, dass er Vater eines Kindes mit Beeinträchtigung ist.
Ihm sei es wohl wie vielen betroffenen Eltern ergangen, meint er: Einer der ersten Gedanken, als er von der Beeinträchtigung erfahren habe, “war nicht, oh, wie schlimm! Man hält ja das Glück in den Händen, einen großen Schatz. Der erste Gedanke der mich und auch meine Frau sofort beschäftigt hat, obwohl das Kind noch so klein ist, war: Was wird sein, wenn wir nicht mehr sind? Wie wird es sein? Wird sich unser Kind, das ja einmal ein Jugendlicher, ein junger Erwachsener wird, irgendwann zurecht finden können im Leben, auch selbstständig sein können, ein erfülltes Leben führen können?”
Einen Schritt in diese Richtung sieht Kompatscher in der Genehmigung der Richtlinien, die am Dienstag präsentiert wurden.
Inklusives Wohnen
Nicht trennen, abschotten, ausgrenzen. Sondern allen die gleichen Chancen geben. Das ist das Ziel des Inklusionsgesetzes, das der Landtag 2015 einstimmig genehmigt hat. Jetzt, knapp sechs Jahre später, kommt das Gesetz in einem seiner Kernbereiche zur Umsetzung: dem Wohnen.
Menschen mit Behinderungen, mit psychischer Erkrankung oder mit Abhängigkeitserkrankungen sollen frei und selbstbestimmt entscheiden können, wie sie am liebsten wohnen. Das ist die erklärte Zielsetzung der Richtlinien, die die Landesregierung auf ihrer letzten Sitzung beschlossen hat. Geschrieben wurden sie von einer eigens einberufenen Arbeitsgruppe.
Mehr Möglichkeiten
In Südtirol gibt es rund 13.500 Menschen, denen eine Behinderung laut Gesetz 104 attestiert wurde. Davon sind etwa 5.700 zwischen 18 und 64 Jahre alt – und damit in einem Alter, in dem die Frage “Wo, mit wem, wie möchte ich wohnen?” zentral ist. Wer nicht bei der eigenen Familie leben kann oder möchte, für den gibt es mehrere Möglichkeiten. 2019 existierten 209 Projekte der sozialpädagogischen Wohnbegleitung, bei denen Menschen mit Behinderung selbstbestimmt – in einer privaten oder einer Wohnung des sozialen Wohnbaus –, aber dennoch mit Begleitung und mit eventuell nötiger Pflegeunterstützung leben. In Wohngemeinschaften und -häusern sowie einigen Gastfamilien gibt es 550 Plätze. Dazu kommen Trainingswohnungen für 20 Personen, wo diese bis zu zwei Jahre verbringen und lernen können, wie eigenständiges Wohnen klappen kann.
Die nun genehmigten Richtlinien zum Wohnen für Menschen mit Behinderungen legen fest, wie die Betroffenen besser unterstützt und welche neuen Wohnmöglichkeiten geschaffen werden. Über allem steht das klare Bekenntnis zur Deinstitutionalisierung: Das Angebot an Wohnmodellen soll weg von eigenen Einrichtungen und hin zu einem Mehr an Wohnangeboten in “normalen” Umfeldern ausgebaut werden. Ein Schritt hin zu mehr Selbstbestimmung und Autonomie.
Eine wichtige Neuerung ist auch die Wohnberatung. Die Träger der Sozialdienste müssen dazu eine leicht aufsuchbare Kompetenzstelle einrichten.
Mehr Autonomie
“Es geht nun weniger darum, herkömmliche Dienste auszubauen, sondern vielmehr darum, Lösungen bzw. Leistungsangebote an die individuellen Bedürfnisse der Menschen anzupassen”, fasst Johanna Marsoner zusammen. Am Sozialzentrum Kurtatsch, das sie leitet, warten derzeit rund 200 Personen auf eine für sie geeignete Wohnmöglichkeit. Jetzt erwartet sich Marsoner, dass “verstärkt kreative und neue Wohnformen” angeboten werden. Franca Marchetto, die die Wohnprojekte bei der Lebenshilfe leitet, pflichtet bei: “Mit den Richtlinien bieten sich neue Möglichkeiten für Betroffene und für ihre Familien, vor allem im Bereich der Wohnberatung, weil es nun möglich ist, frühzeitig und über einen langen Zeitraum Beratung und Begleitung zu ermöglichen.”
“Der Bedarf an Wohnunterstützung ist in vielerlei Hinsicht gegeben”, weiß auch der Präsident des Dachverbands für Soziales und Gesundheit Wolfgang Obwexer. Zusätzlich zur familiären Unterstützung brauche es aber auch die Solidargemeinschaft in Form der öffentlichen Hand und der gemeinnützigen Organisationen, betont Obwexer. “Die Menschen mit Beeinträchtigungen und ihre Familien haben lange und geduldig auf die Richtlinien gewartet, wir appellieren deshalb an alle die Richtlinien jetzt auch rasch umzusetzen und mit den nötigen finanziellen Ressourcen auszustatten.” Die – wörtliche – Zustimmung von Soziallandesrätin Waltraud Deeg gab es bei der Präsentation der Richtlinien am Dienstag. Auch Landeshauptmann Arno Kompatscher war, wie eingangs erwähnt, dabei – und meinte: “Für die Betroffenen, aber auch für die Eltern ist es wichtig, zu wissen, dass Selbstständigkeit, unterstützt durch Infrastrukturen und durch Menschen, möglich ist. Das Ziel ist es, Möglichkeiten zu mehr Autonomie zu schaffen.”
Richtlinien für das Wohnen von Menschen mit Behinderungen in Südtirol. In Leichter Sprache.