Einmal um die Welt und zurück

Wir blinzeln in die Sonne. Lily sitzt neben mir und wir warten auf Anika, ihre 18jährige Tochter. Es fehlt nur noch ihre Unterschrift, dann kann der Antrag auf Wohnsitzänderung abgeschickt werden. Lily zieht mit ihren drei Kindern um. Sie zieht zwar nur in ein Provisorium, aber es wird ihre erste eigene Wohnung in Bozen sein. Fern von Ehemann und Vater der Kinder. Er bleibt, wo er ist. Lily, 35 Jahre alt. Geboren in Bangladesch, seit 16 Jahren in Südtirol. Eigentlich müsste ich sagen: In Bozen, denn die junge Frau kommt selten über die Stadtgrenze hinaus. Wie viele ihrer Landsfrauen heiratete sie mit 16, ihr Mann übersiedelte nach Italien, Lily folgte ihm später nach. Sie verbrachte die Zeit in Bozen mehr oder weniger in den eigenen vier Wänden, oder bei den anderen Frauen aus Bangladesch. Der Mann wollte es so. Damit ist jetzt aber Schluss.
Ich blinzle in die Sonne. Lily steht nun am Herd und wendet die würzigen Teigtaschen im siedenden Öl. Sie weiß, dass mir ihre Gerichte schmecken und immer, wenn ich zu Besuch komme, gibt es etwas Gutes für mich.
Südtirol ist ein eher junges Einwanderungsland. Erst in den 1980er Jahren ziehen Menschen aus anderen Ländern nach Südtirol, auf der Suche nach Arbeit. Einigen durften wir in den letzten zehn Jahren begegnen, der Kameramann Agostino und ich – für das Fernsehen. Wir berichten über Minderheiten im Ausland, aber auch über die „neuen Minderheiten“ im Inland. Wie finden sie sich hier zurecht? Was zeichnet sie aus? Worüber stolpern sie?
Armel, Ende 20. Das Studium an der Theologischen Fakultät in Brixen hat er abgeschlossen, er ist jetzt Religionslehrer. Ein Religionslehrer und ein Albaner. Armel kam als kleines Kind Ende der 1990er Jahre nach Südtirol. Er spricht den Dialekt seines Heimatdorfes Welsberg. Er macht das, was viele junge Menschen in Südtirol machen: ausgehen, feiern, sich auf die Zukunft vorbereiten. Die Religiosität ist Familiensache. „In Albanien war der Atheismus Staatsreligion. Meine Mutter hat sich mit meinem Vater bei ihrer Ankunft in Italien taufen lassen. Viele albanische Familien haben diese Taufe auch als einen Prozess der Integration verstanden. Wir kommen zu euch, wir wollen Teil dieser Gemeinschaft werden“.
Sie waren die ersten, die in größerer Zahl nach Südtirol kamen – Familien aus Albanien. Vor 25 Jahren reisten rund 300 Menschen mit dem Zug an und wurden in Welsberg untergebracht. Es war die erste Migrationswelle hierzulande. Heute sind sie die größte Einwanderungsgruppe mit über 5000 Menschen. Wenn Zeitungen über Albaner sprechen, dann meist im Zusammenhang mit Kriminalität, mit Schlägerbanden. Die EURAC-Forscherin Roberta Medda Windischer sagt, die mediale Berichterstattung sei ein Problem. Der Großteil der Albaner sei gut integriert, spreche gut Italienisch, auch sehr gut Deutsch, auch sei der Bildungsgrad sehr hoch. „Sie sind also eine Gemeinschaft, die interessant ist zu integrieren. Sie sind, wenn man so sagen kann, ein gutes Vorbild.“
Jing Chen, 32 Jahre alt. Wir treffen die junge Frau beim chinesischen Neujahrfest in Bozen. Hunderte von Teigtaschen werden gerade per Hand zusammengedrückt. Jiaozi sind ein typisches Neujahrgerichts. Das gemeinsame Essen ist ein zentraler Wert in der chinesischen Kultur. „Für Südtiroler sehen alle Chinesen gleich aus. Aber als ich nach Südtirol kam, haben für mich alle gleich ausgesehen.“ Die 32jährige Jing kam mit 15 Jahren nach Bozen, ging dort zur Schule, besuchte die Universität und versuchte kürzlich in China Fuß zu fassen. „Da fühlte ich mich aber nicht sehr chinesisch. Die Leute dort sind sehr fleißig, sie arbeiten und haben nur das Geld im Kopf. Hier ist es anders, das Leben ist langsamer und man darf hier auch genießen. Vielleicht bin ich inzwischen mehr Italienerin. Deshalb lebe ich gerne hier.“ Jing Chen wird nicht nach China zurückkehren. Ihre Eltern hingegen schon. Das neu gebaute Haus wartet dort auf sie, und das Leben in Rente.
Es leben an die 1.200 Chinesen in Südtirol, die chinesische Gemeinschaft ist sehr eng verbunden. Ende der 1980er Jahre sind die ersten gekommen und haben Restaurants eröffnet, inzwischen sind Cafés, Bekleidungsläden oder Friseursalons dazugekommen. Die Einwanderer der ersten Generation hatten oft nur eine geringe Schulbildung genossen, ihre Kinder sollen es besser haben. Seit mehreren Jahren gibt es in Bozen eine chinesische Schule, jeden Dienstag- und Donnerstagnachmittag. Was auffällt: Die Kinder haben zwei Namen. Einen chinesischen und einen westlichen. Zwei Namen: zwei Welten? Es ist eine Geste der Höflichkeit, sagt man uns. Gleich nach der Ankunft in Europa geben sich Chinesen ortsübliche Namen. Jing Chen: „Für uns, also für die zweite Generation, ist die Frage nach der Identität interessant. Viele fühlen sich hier weder italienisch noch chinesisch. Aber meiner Meinung nach kann man beides sein.“
Über Politik will niemand so recht mit uns sprechen, der Schatten des ungarischen Präsidenten Viktor Orban soll nicht bis nach Südtirol reichen.
Heute leben in Südtirol Menschen aus 138 verschiedenen Ländern, die meisten wohnen in der Stadt. Dadurch wird auch die kulturelle Vielfalt der Südtiroler Gesellschaft immer facettenreicher. Knapp über 30 % stammen aus einem der 28 Mitgliedsstaaten der Europäischen Union, unter anderem auch aus Ungarn. Szabolcs, genannt Szabi, Mitte 40. Seit zwei Jahren führt er in der Bozner Innenstadt ein Café, ab und zu serviert er auch eine scharfe ungarische Gulaschsuppe. Als er nach Südtirol kam, begann er als Saisonarbeiter im Gastgewerbe zu arbeiten. Mehrere Jahre hintereinander, bis die Liebe kam, und er blieb. Sein Lokal ist heute ein beliebter Treffpunkt, die Arbeitszentrale des Vereins der Ungarn in Südtirol. Mit Beginn der COVID19-Pandemie im März 2020 wurde der Verein aktiver denn je. Der Präsidentin Melinda Kindl sitzt der Schreck noch in den Knochen. „Von einem Moment auf den anderen blieben die Ungarn ohne Hilfe. Da die Hotels im März schließen mussten, landeten tatsächlich viele auf der Straße. Von einem Tag auf den anderen, auch bei Minusgraden. Wir konnten mit Hilfe des Konsulats in Mailand und mit Hilfe des Honorarkonsuls Siegfried Brugger die Heimreise nach Ungarn organisieren. Wir haben auf diese Weise an die 75 Menschen gerettet.“ Das vergangene Jahr hat die ungarische Gemeinschaft zusammengeschweißt, eben erst wurde die erste ungarische Schule in Südtirol gegründet. Die Ungarinnen und Ungarn sind stolz auf ihr Land, auf die Kultur und die Geschichte. Über Politik will niemand so recht mit uns sprechen, der Schatten des ungarischen Präsidenten Viktor Orban soll nicht bis nach Südtirol reichen.
Wir versuchen in unseren Berichten über die neuen Südtirolerinnen und Südtiroler ein Gefühl für die Kultur, die Gemeinschaft zu geben. Meistens landen wir in der Küche und dürfen den Menschen über die Schulter schauen, in den Kochtopf hinein. Die Gerichte wandern immer mit, bei allen Migrationsgeschichten. Die Gespräche darüber, sie sind unverfänglich. Sie erlauben aber ein erstes Kennenlernen. Und immer wird aus der Gruppe, aus dem „ihr“ ein „du“. Ein Mensch, mit einer ganz eigenen Geschichte.
Ich blinzle in die Sonne. Lily steht nun am Herd und wendet die würzigen Teigtaschen im siedenden Öl. Sie weiß, dass mir ihre Gerichte schmecken und immer, wenn ich zu Besuch komme, gibt es etwas Gutes für mich. „Alle Frauen aus Bangladesch können gut kochen. Das ist so“. Noch lebt Lily mit ihren drei Kindern in einer Wohnung, die eine Übergangslösung ist. Viele Wohnungsbesitzer winken sofort ab, wenn Lily mit gebrochenem Italienisch nach einer freien Wohnung fragt. Die Vorbehalte sind groß.
Aber wir lassen nicht locker.