Società | Interview

„Die Mauer des Schweigens brechen“

Der italo-kongolesische Menschenrechtsaktivist John Mpaliza mobilisiert für Frieden und Klimaschutz. Dabei füllt er die Wissenslücke zu Kolonialisierung.
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Foto: Privat

John Mpaliza gab vor einigen Jahren seine Arbeit als Software-Ingenieur auf, um Friedenswanderer zu werden. Seitdem spricht er auch in Südtiroler Schulen über Herausforderungen der Gegenwart und veranstaltet über Italien hinaus Friedensmärsche – in seinem Herkunftsland Demokratische Republik Kongo herrscht noch immer Krieg. Unter dem Titel „Marsch der Raupen“ demonstriert er in Trentino-Südtirol gemeinsam mit Kindern und Jugendlichen für Menschenrechte, Gerechtigkeit, Frieden, ökologischen Wandel und aktive Bürgerschaft.

Salto.bz: Herr Mpaliza, wie ist das Projekt „Marsch der Raupen“ entstanden?

John Mpaliza: Ich bemerkte in den Schulen, dass die Kinder unter den Sicherheitsmaßnahmen durch die Corona-Pandemie leiden. Deshalb geht es bei diesem Marsch auch darum, die Kinder wieder nach draußen zu bringen. Da ich seit 2010 jedes Jahr einen Marsch unternehme, entschloss ich für dieses Jahr mit Schulkindern unterwegs zu sein. Insgesamt wandere ich dieses Mal nur 40 Tage. Ich bin am 4. März von Borgo Valsugana zu Fuß gestartet und werde den Marsch am 12. April in Brixen gemeinsam mit Schulkindern beenden.

Was steckt hinter den Namen „Marsch der Raupen“?

In der Entwicklungsphase des Projektes erzählte ich einer Schulklasse davon, einen regionalen Marsch zu organisieren, um gemeinsam die Welt zu ändern. Daraufhin erwiderte ein neunjähriger Junge, dass ich das Projekt „Marsch der Raupen“ nennen könnte, weil sich die Raupen in Schmetterlinge verwandeln und auch Menschen gemeinsam viel verändern können.

 

 

Welche Inhalte vermitteln Sie den Kindern und Jugendlichen bei ihrer Arbeit?

Ich erkläre ihnen die Zusammenhänge, um die Welt und das Europa von heute besser zu verstehen. Außerdem geht es auch darum, wie sie den Status quo verändern können. Denn die Welt stirbt gerade. Ich sage ihnen, dass sie wegen der globalen Erderwärmung eine unsichere Zukunft haben. Wenn wir heute nichts machen, welche Zukunft gibt es dann in 30 oder 50 Jahren?

 

Denn in Europa zählen die über Jahrhunderte hinweg begangenen Verbrechen in Afrika nicht zu den Unterrichtsinhalten.

 

Wieso haben Sie sich entschieden, Friedenswanderer zu werden?

Ich wurde in der Demokratischen Republik Kongo geboren, ein Land, das so groß ist wie die achtfache Fläche von Italien. Als ich bereits mehrere Jahre in Italien lebte, fiel mir auf, dass die Menschen hier nichts über die Lage meines Landes wissen. Ich konnte ihnen nicht vorwerfen, unsensibel zu sein. Denn in Europa zählen die über Jahrhunderte hinweg begangenen Verbrechen in Afrika nicht zu den Unterrichtsinhalten. Deshalb beschloss ich, darüber zu erzählen, um die Mauer des Schweigens zu brechen.

Was erzählen Sie?

Der Kongo verfügt über reichlich Ressourcen. Diamanten, Gold, Kupfer, Kobalt, Zinn, Magnesium, Blei, Zink, Uran, Erdöl – es ist alles da. Außerdem liegt im Kongobecken der zweitgrößte Regenwald der Welt. Damit ist das Land für die Welt von großer Bedeutung. Dieses Telefon beispielsweise, das Sie zur Aufzeichnung des Gesprächs nutzen, funktioniert dank eines Minerals namens Coltan, dessen Abbau zu 80 Prozent im Kongo stattfindet. Auch bei Kobalt, das für die Batterien von E-Autos notwendig ist, kommt mit 70 Prozent ein großer Teil aus meinem Herkunftsland. Damit funktionieren die Technologien von heute dank dieses Landes.

Wie ist die Lage im Kongo derzeit?

Dafür muss ich etwas ausholen, denn es ist ein Land, das seit Jahrzehnten ausgebeutet wird. Wie wir wissen, lebt Europa seit langer Zeit auf Kosten von Afrika. Es begann damit, als Christoph Kolumbus 1492 die Amerikas erreicht und der Sklaven- und Dreieckshandel zwischen den Kontinenten Europa, Afrika und Amerika eingeführt wurde: Die Europäer gingen nach Afrika, um die Sklaven zu holen, sie brachten sie nach Amerika, ließen sie dort arbeiten und die dort produzierten Waren wurden nach Europa gebracht. Damit wurden Verbrechen gegen die Menschheit begangen. Der Kongo lag im Herzen dieser Verbrechen. Bei der Aufteilung Afrikas unter europäischen Ländern während der Berliner Konferenz 1885 wurde unser Land Belgien zugewiesen und unsere damalige reiche Kultur wurde zerstört. Aufgrund unserer Bodenschätze sind heute europäische Länder und die BRICS-Staaten im Kongo präsent, um Zugang zu den Mineralien zu haben.

 

Sie unterstützen afrikanische Diktatoren, die ihnen die Ausbeutung ermöglichen.

 

Wie bewerten Sie die politische Situation im Kongo?

Im Kongo herrscht seit 1996 ein Konflikt, dem mittlerweile schätzungsweise 10 Millionen Menschen zum Opfer gefallen sind, der Kinder zu Soldaten macht und Frauen sexueller Gewalt aussetzt. Auch mein Vater starb in diesem Krieg, eine Schwester von mir wird seit 1998 vermisst. Wird die Zahl der Opfer durch die seither vergangenen 25 Kriegsjahre geteilt, starben pro Jahr durchschnittlich 400.000 Menschen, das sind ähnlich viele wie die gesamte Bevölkerung in Südtirol, hier leben 500.000. Neben den Kriegsmassakern arbeiten tausende Kinder im Alter von vier bis zwölf Jahren unter militärischer Kontrolle in den Minen, um für zwölf Stunden pro Tag Minerale abzubauen. Die Arbeit ist sehr gefährlich, es gibt tödliche Minenunfälle, die Mineralien verursachen Krebs, die Kinder erleiden Gewalt und Mädchen erfahren dabei auch sexuellen Missbrauch. Der Gynäkologe Denis Mukwege erhielt 2018 den Friedensnobelpreis unter anderem dafür, dass er die Verletzungen von Mädchen und Frauen durch Gruppenvergewaltigungen und Unterleibsschändungen im Kongo behandelt. Unter der Bevölkerung gilt er als der Mann, der die Frauen repariert.  

 

 

Wie hängt dieser Krieg mit Europa zusammen?

Westliche Länder haben gemeinsam mit ihren multinationalen Konzernen den Staat zerstört. Sie unterstützen afrikanische Diktatoren, die ihnen die Ausbeutung ermöglichen. Dabei bestechen sie die afrikanischen Führungspersonen und entscheiden, wer an der Macht bleiben darf und wer nicht. Die schlimmsten Diktatoren behalten sie und unterstützen diese, wenn das Volk aufbegehrt. Die Diktatoren lassen sich also dafür bezahlen, dass sie Menschen ihres eigenen Volkes töten. Dieselben Diktatoren besuchen Treffen der UNO und der EU. Wenngleich im Kongo unter dem Namen MONUSCO die beeindruckendste Mission der UNO-Blauhelme läuft, ist die Untersuchung der Kriegsverbrechen vonseiten des Internationalen Strafgerichtshof vollkommen unzureichend.

 

Hier geht es um strukturellen Rassismus.

 

Diese Handhabung kann ich mir nur durch rassistische Denkmuster erklären.

Hier geht es um strukturellen Rassismus. Wir leben in einer Welt, in der Afrika als Kontinent gilt, der ausgenutzt werden kann.

Also ist der Imperialismus noch nicht beendet.

Es geht schon seit fünf Jahrhunderten so. Meine Eltern lebten im Kongo unter belgischer Kolonialherrschaft wie Sklaven ohne jegliche Rechte. Mein Vater war ein Schreiner und musste den Meister um Erlaubnis fragen, um pinkeln zu gehen.

Wieso haben Sie den Kongo verlassen?

Ich war auch im Kongo Aktivist und studierte für zwei Jahre an der Polytechnischen Hochschule. Gemeinsam mit anderen Studierenden leistete ich gegen den damaligen Diktator Widerstand, viele wurden erschossen und eingesperrt. Auch ich wurde gefangen genommen. Nach diesem Vorfall half mir meine Familie, 1991 zu fliehen. Ich floh nach Algerien und nahm mein Studium dort wieder auf. 1992 beschloss ich nach Europa zu reisen, um mir die berühmten Sehenswürdigkeiten des Römischen Imperiums, über die ich in der Schule so viel erfahren habe, anzusehen. Dann verpasste ich meinen Flug nach Algerien in Rom und erfuhr am Tag darauf, dass es am algerischen Flughafen am Abend zuvor ein Attentat gegeben hat. Ich entschied, in Italien zu bleiben.

Wie können Sie sich das Leben als Friedenswanderer finanzieren?

Als ich meine Arbeit als Software-Ingenieur bei der Stadtverwaltung von Reggio Emilia 2014 kündigte, verschenkte ich mein Auto und beschränke mich seitdem auf wenige Dinge. Da ich als Friedenswanderer anfangs sehr viel reiste, gab ich auch meine Wohnung auf. Seit fünf Jahren lebe ich nun mit meiner Lebensgefährtin in Trient. Meine Ausgaben finanziere ich über Bildungsprojekte mit Schulen. Die Friedensmärsche hingegen werden von den vielen Organisationen finanziert, mit denen ich zusammenarbeite.