Auf zur „freiwilligen Quarantänepflicht“
Politik - gibt es die noch? Die Frage stellt sich in diesen Tagen gleich örtlich wie inhaltlich. Auf Staatsebene die Regierungskrise, die viel mehr ist als nur ein nächster Regierungswechsel zu den bisherigen 66 hinzu. Es ist das Verräumen der Politiker und ihre Ersetzung durch Technokraten. Das Parlament, Vertretung des Wählerwillens, wird ja sagen müssen zu allem, was von oben diktiert wird, oder geht heim. Vogel, friss oder stirb! Das Sprichwort gilt diesmal wortwörtlich. In Südtirol hingegen geht das Gespenst vom Ende der Politik unter dem Namen Corona-Krise um. Es kommt uns demokratisch bemäntelt entgegen, und indem es schwerer durchschaubar ist, ist es im Zweifel noch gefährlicher.
Wollten wir „positiv denken“, also nicht denken, müssten wir fragen: Haben wir es momentan mit einer Demokratisierung von Corona zu tun? Einberufung und Ergebnis der Sozialpartner-Konferenz beim Landeshauptmann Mitte voriger Woche haben diesen Eindruck erweckt. In bester sozialpartnerschaftlicher Tradition haben Verbände, die sonst einander in institutionalisierter Abneigung verbunden sind, zu einer alles in allem einheitlichen Position gefunden. Und diese hieß: Wenn Maßnahme schon sein muss, dann Lockdown! Und zwar ordentlich. Inzwischen ist es so weit. Wie aus den Gesichtern und Erklärungen hintennach zu lesen war, herrschte allgemeine Erleichterung. Bei den Verbänden, weil sie überhaupt einmal angehört wurden und Position beziehen durften. Und beim Landeshauptmann und seinen Mannen, weil ihnen Verantwortung abgenommen wurde für eine Entscheidung, die sie sonst alleine hätten treffen müssen. Die Entscheidung, dass nämlich der Lockdown hätte kommen müssen, und zwar sofort und hart. Basisdemokratisch verordnete Corona-Bewältigung wird man das einmal heißen.
Die Politiker haben das Zepter abgegeben. Gab es in der Sache bisher Verordnungen des Landeshauptmannes, so hat diesmal Dolomiten-Chefredakteur Toni Ebner, auf Landesrat Widmann sich berufend, „die richtige Vorgabe geliefert: Es braucht einen Pakt mit der Bevölkerung“. Dieser Pakt beinhaltet alles, was bisher verpflichtend war, mit dem Unterschied, dass es fortan freiwillige Pflichten sein sollen. Wer nicht spurt, gehört in „freiwillige Quarantäne-Pflicht“. Der ebner-widmannsche Verhaltenskodex, im Dolomiten-Leitartikel von letztem Donnerstag zusammengefasst, lautet: Wenn wir freiwillig alle Corona-Schutzpflichten einhalten, braucht’s keinen verordneten Lockdown mehr. „Das ist der richtige Weg für Südtirol“. Amen.
Fehlte nur noch, dass ein Luis längsten Gedenkens zurückgerufen wird, als Corona-Verweser, ausgestattet mir kommissarischer Vollmacht
Das ist die Argumentation, und am Tag drauf verordnet der Landeshauptmann: drei Wochen Lockdown! Die Daten sind schlimm (das zumindest wird im Gegensatz zu bisher nicht mehr bestritten), aber die Pandemie ist unter Kontrolle (wie immer schon). Grund, eigenes fehlerhaftes Krisen-Management einzugestehen, besteht keiner. Nicht Fehler aufrechnen, sondern nach vorn blicken! – auf diesen kleinsten gemeinsamen Nenner hat man sich geeinigt. Und, es klingt absurd: der sozialpartnerschaftliche Konsens übers Wie-weiter? kam zustande nach dem Je-schlechter-je-besser-Prinzip: gemeinsames Leid, halbe Freud. Befehdeten sich letzthin Lockdown-Betroffene und Lockdown-Befreite in einem kindischen Futterneid (Gastwirte gegen Kaufleute, Gewerbetreibende gegen Schulleute, Touristiker gegen einheimische Schifahrer), so gibt’s jetzt Frieden ausgerechnet im Namen eines Lockdown für alle. Wenn leiden sein muss, dann bitte alle leiden. So schadenfroh solidarisch, so selbstgerecht demokratisch hat Corona uns gemacht.
Tatsächlich, wir erleben ein sinnfälliges Zusammentreffen zweier gespenstischer Krisenbewältigungen. Hier im Land das offensichtliche Scheitern des „Südtiroler Sonderweges“ aus der Corona-Pandemie. Die neuerliche Ausrufung des Lockdown ist nichts anderes als das (jetzt sozialpartnerschaftlich abgesegnete) Eingeständnis der Landesregierung, dass Autonomie nicht länger heißen kann, es justament anders machen zu wollen. In Rom ist man noch einen Schritt weiter gegangen und hat die Politik den Politikern ganz aus der Hand genommen. Zu groß war den Parteien die Chance, so viele Milliarden verteilen zu können wie nie in der Geschichte dieses Staates. Es wäre nicht Italien, wenn sie sich nicht darüber verstritten hätten. So kommt Super Mario (Draghi), vielleicht Gott sei Dank, nimmt alles Geld in die Hand, und das Parlament, Vertretung des Volkes, darf zusehen und muss Ja sagen.
Soweit haben wir es in Südtirol noch nicht. Aber Obacht, Politik-Verzicht ist ein Virus und somit ansteckend. Rufe nach „freiwilliger Pflicht“-Befolgung sind bereits da. Von da zum Ruf nach der starken Hand ist nicht weit. Fehlte nur noch, dass ein Luis längsten Gedenkens zurückgerufen wird, als Corona-Verweser, ausgestattet mir kommissarischer Vollmacht. Und dass dieser, über alle Bürokratie hinweg „hilft“, wie ehedem, dann halt ganz ordnungsgemäß. Gott bewahre!
Florian, du hast anscheinend
Florian, du hast anscheinend am Dienstag nicht Pro & Contra Spezial geschaut, sonst hättest du die folgenden Sätze nicht geschrieben: "Grund, eigenes fehlerhaftes Krisen-Management einzugestehen, besteht keiner. Nicht Fehler aufrechnen, sondern nach vorn blicken! – auf diesen kleinsten gemeinsamen Nenner hat man sich geeinigt." Bei dieser Befragung Kompatschers durch zwei Rai-Redakteure, die versucht haben, ihn auch in die Mangel zu nehmen, hat er schon demütig Fehler eingestanden. Das muss man ihm zu Gute halten.
Wenn man über Südtirol hinausschaut, werden auch in Österreichischen und Deutschen Bundesländern die Verantwortlichen kritisiert, auch der Bundesminister Spahn. Das deute ich so, dass auch andere verantwortliche Politiker z. T. überfordert sind. Und auch dort gibt es - noch im stärkerem Maße - Opposition verschiedenen Couleurs in der Bevölkerung.
In risposta a Florian, du hast anscheinend di Sepp.Bacher
Das ist richtig, Herr Bacher,
Das ist richtig, Herr Bacher, LH Kompatscher war bei „Pro & Contra“ durchaus selbstkritisch. LR Widmann hingegen scheint nicht zur Selbstkritik zu neigen, wenn man das Interview mit ihm in der heutigen „ff“ liest.