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Windpocken Reloaded

Verzagen Sie nicht: Das Leben wird weitergehen. Und es wird richtig gut.
Derzeit suchen mich etwas unangenehme Erinnerungen heim: Ich muss etwa zehn Jahre alt gewesen sein, es war Hochsommer, und ich hatte die Windpocken.
Was Ihnen vielleicht nur ein Achselzucken entlockt, für mich war es eine Tragödie. Draußen tobte das Leben, ich hörte die Schreie der Nachbarskinder beim Lastikhupfen, bekam mit, wie sie ins Schwimmbad gingen und sich generell an der süßen Freiheit der Sommerferien erfreuten, während ich mit dem Federbett im Wohnzimmer lag und die dunkelroten, samtigen Polyestervorhänge anstarrte.
Okay, ich durfte natürlich fernsehen, „Nils Holgersson“, und dieses tieftraurige „Perrine“, das heute wohl unter seelische Körperverletzung fiele.
Aber wenn ich an diese Zeit zurückdenke, wahrscheinlich waren es eh keine drei Wochen, sondern nur ein paar Tage, dann fallen mir immer diese roten Vorhänge ein, und wie sehr ich sie gehasst habe. Besuch bekam ich natürlich keinen, außer von der Mama, die Tee brachte und mich ermahnte, mich nicht zu kratzen, auch wenn es juckte. Wie erfolgreich ihre Worte waren, das können Sie heute noch an meinen Oberschenkeln und meiner Nasenspitze ablesen:  Irgendwann war mir so fad, dass Pinggelen aufpfnotschen eine reizvolle Beschäftigung war.
Diese Zeit der Isolation war schlimm, aber was auf sie folgte, das war dann mit Sicherheit der beste Sommer meiner Kindheit.
Worauf ich eigentlich hinaus will: Diese Zeit der Isolation war schlimm, aber was auf sie folgte, das war dann mit Sicherheit der beste Sommer meiner Kindheit. Nie war das Eis süßer gewesen, nie die Zeit im Schwimmbad wertvoller, nie hatte ich mich mehr über die Ferien gefreut. Und auf diese Zeit, in der wir unsere alten Freiheiten wieder zurückbekommen, auf die müssen wir uns jetzt freuen, wenn grad alles schwerfällt.
 
Leicht gesagt, das Ganze hat ja eben erst begonnen. Und keiner weiß, wie lange es dauern wird. Mir liegt es auch fern, behaupten zu wollen, dieser Ausnahmezustand habe auch seine guten Seiten.
Mag sein, dass uns grad klar wird, dass es auch ohne viele Annehmlichkeiten geht, an die wir uns längst gewöhnt haben. Aber ein Ausnahmezustand ist kein gesellschaftliches Lifestyle-Experiment. Unsere jetzige Situation als Übung für mehr Nachhaltigkeit und Achtsamkeit schönzureden, ist zynisch und naiv. Dafür leiden zu viele Menschen darunter, emotional und auch wirtschaftlich, und, bitte nicht vergessen, es bleibt eine drastische, wenn auch nötige Einschränkung unserer persönlichen Freiheit.
Wenn Heinrich Zanon meint, dass jetzt wohl vielen klar werde, dass der Hausarrest eine ernstzunehmende Strafe ist , dann  kann ich nur beipflichtend sagen: Tell me something I didn’t know, bro.
Ich bin mit dem Strawanzer-Gen geboren,  länger als einen halben Tag halte ich es in meinen vier Wänden nicht aus.
 
Wenn mir also jetzt die selbsternannten Hilfs-Sheriffs auf Facebook Spaziergänge mit meinen Kindern auf meinem Gemeindegebiet untersagen wollen, dann muss ich sie warnen: Gegen meinen Koller könnte eine Infektion mit dem Coronavirus das geringere Übel sein. Dennoch kann ich nicht von der (natürlich reinlichst gewaschenen) Hand weisen, dass diese auferlegte Beschränkung des Aktionsradius gewisse Nebeneffekte haben kann, die auf lange Sicht nützlich sind. Beispiel Partnerschaften: Vielleicht lernen Sie jetzt, da Sie und ihr Partner viel Zeit auf engem Raum verbringen müssen, ihn oder sie von einer ganz neuen Seite kennen. Bemerken liebens- oder hassenswerte Tics, von denen sie nichts wussten, nehmen ihn oder sie bewusster wahr („Hmm, neue Frisur?“Ja. Seit drei Jahren.“) und haben endlich Zeit für klärende Gespräche, auf die nach Ablauf der Einschränkungen dann (erneute) Heirat oder Scheidung folgen können. Corona als Katalysator, sozusagen.
Ich bin mit dem Strawanzer-Gen geboren,  länger als einen halben Tag halte ich es in meinen vier Wänden nicht aus.
Wenn sie niemanden an der Backe haben und beispielsweise jetzt diesen Text schreiben könnten, ohne dass ein Kind Süßigkeiten und Fernsehen fordert, während das andere jederzeit aus dem viel zu kurzen Nachmittagsschlaf zu erwachen droht, dann können sie die Zeit nutzen, um Ordnung in ihren vieren Wänden zu schaffen.
Terf i meinen Keller aufraumen?“, fragte ein besorgter Senior in der Anrufsendung auf Rai Südtirol, und die Antwort kann nur sein: Sie sollen sogar. Seit langem aufgeschobene Arbeiten zu erledigen, den Frühjahrsputz vorzuziehen, es wird sie wesentlich zufriedener machen als nonstop den Nachwuchs bespaßen zu müssen. Immerhin können sie dann stolz auf ein Resultat blicken, während Eltern kleiner Kinder nun, da sich der Handlungsspielraum zu 90% in der Behausung befindet, sich mit einem Chaos konfrontiert sehen, dem kaum mehr Herr zu werden ist. Kaum ist eine Truhe Lego wieder eingeräumt, wurden anderswo schon sämtliche Klamotten aus dem Schrank gezerrt, und während diese wieder verstaut werden, plätschert lustig das Bidet. Oft habe ich mich gefragt, wieso man die Sage um Sisyphos so umständlich gestaltet hat. Viel anschaulicher hätte man ihn zum Vater zweier Kleinkinder gemacht, deren Puff er allabendlich aufräumen muss, nur, damit er am nächsten Tag aufs Neue entsteht. Felsblock, my ass! Es gibt kein besseres Bild für Vergeblichkeit.
 
 
Nichtsdestotrotz, auch diese Zeit des ununterbrochenen Sklavendienstes für Unmündige wird jemandem nützen, und zwar den Menschen, die sich beruflich um unsere Kinder kümmern.  Ich hielt sie vorher schon in Ehren, nun verlange ich die Heiligsprechung. Und wenn sie endlich mal ordentlich bezahlt bekämen für ihre nicht hoch genug einzuschätzende Arbeit, wäre auch nicht übel.  
Ob sie in Zukunft noch genug Arbeit haben werden, das weiß ich allerdings nicht. Der derzeitige Abscheu vor spontanem Körperkontakt und -flüssigkeiten könnte ja länger anhalten, was eine gute Nachricht für die Freunde von Hygiene und Händewaschen nach dem Toilettengang ist, aber eine schlechte für Bussi-Bussi-Begrüßer*Innen und die Fortpflanzung.  Vielleicht bleiben vom Waschen aufgeraute Hände en vogue, vielleicht wird das Desinfizieren von Körperteilen zum Vorspiel. Vielleicht schlägt es aus Trotz und neugewonnener Lebenslust aber auch ins Gegenteil um, und Bussi links Bussi rechts wird um einen ausgiebigen Wangenschlecker ergänzt. Vielleicht wird Napoleons „Wasch dich nicht!“ an seine Geliebte die neue Beischlaf-Etikette.
Vielleicht schlägt es aus Trotz und neugewonnener Lebenslust aber auch ins Gegenteil um, und Bussi links Bussi rechts wird um einen ausgiebigen Wangenschlecker ergänzt.   
Jedenfalls: Nutzen sie diese Zeit, so gut Sie können. Machen sie das Beste aus diesem Un-Zustand. Lesen sie, räumen sie auf, setzen sie sich auf dem Balkon in die Sonne. Rufen Sie die Menschen an, die Ihnen fehlen und freuen Sie sich darüber, dass sie diejenigen, die das nicht tun, zurzeit nicht sehen müssen. Freuen Sie sich auf den Sommer, der kommt, und von dem ich überzeugt bin, dass er fantastisch werden wird. Freuen sie sich auf den Aperitivo am lauen Abend im Freien, auf das Pizzaessen mit Freunden, darauf, dass Sie Ihre Lieben wieder besuchen und umarmen können. 
Ja, so klinge ich jetzt. Vielleicht bin ich in einer Woche ganz anders drauf, vielleicht habe ich dann schon multiple Persönlichkeiten entwickelt und führe Selbstgespräche („Hallo Alexandra!“ „Jo hoi, Kienzl! Du aa do?“ „Mogsch an Kaffee?“ „Jo, wieso net?“).
Aber noch überwiegt der Optimismus, dass wir das schaffen werden, wenn wir uns gegenseitig bestärken und darauf verzichten, uns das Leben noch schwerer zu machen, als es gegenwärtig eh schon ist. Jeder halte sich an die Regeln und jeder schaue kritisch und liebevoll auf sich selbst und mitfühlend auf den anderen.  Dann werden wir das schon packen. 
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Salto User
Sepp.Bacher Sab, 03/14/2020 - 15:08

"Hallo Alexandra" du musst nicht das Desinfizieren zum Vorspiel machen, sondern frei drauflos ein neues Kind zeugen, wie es viele tun werden. Und die Kindergärtnerinnen, Bäbysitter oder Kinderbetreuerinnen werden in den nächsten Jahren mehr zu tun haben, wenn ihr sie auch gut bezahlt.
„Jo hoi, Kienzl!“, ich glaube, dass man innerhalb der Familie keine besonderen Hygienemaßnahmen braucht, denn man erkrankt gemeinsam oder gemeinsam nicht. Der (?) derzeitige Abscheu vor spontanem Körperkontakt und -flüssigkeiten muss also nicht länger anhalten! Liebt drauflos, Nachwuchs tut der Gesellschaft gut!

Sab, 03/14/2020 - 15:08 Collegamento permanente