Società | Frauenarbeit

Was würde Ivan Illich dazu sagen?

Was haben die Frauenerwerbsquote, Teilzeitbeschäftigung und geschlechtsbedingte Lohnlücke mit dem Denker Ivan Illich zu tun? Oder anders gefragt: Sollen alle Frauen Ingenieurswissenschaften studieren müssen?
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Foto: Sarah Chai - Pexels
  • Seit mehr als 100 Jahren kämpfen Frauen für mehr Rechte und Gleichstellung. Am vergangenen Freitag wies das Arbeitsförderungsinstitut (AFI) anlässlich des Weltfrauentages auf die immer noch bestehenden geschlechtsspezifischen Ungleichgewichte auf dem Arbeitsmarkt hin. Der Arbeits- und Organisationspsychologe Tobias Hölbling erklärt, woran sich diese zeigen, welche Auswirkungen sie haben – und was der originelle Denker Ivan Illich uns heute noch zu diesem Thema zu sagen hat. 

  • Herr Hölbling, die Zahlen zeigen, dass Frauen und Männer am Arbeitsmarkt immer noch nicht gleich aufgestellt sind.  Können Sie uns ein paar davon nennen?
    «Den ersten Unterschied erkennt man schon bei der Erwerbstätigenquote. Es zeigt sich, dass jene von Männern deutlich höher ist als jene von Frauen. Und das nicht erst seit heute, sondern schon seit Beginn der Datenerfassung. Früher haben noch bedeutend weniger Frauen gearbeitet. Drei von vier Frauen im erwerbsfähigen Alter, also etwa zwischen 20 und 64, gehen heute einer Arbeit nach. Vor 15 Jahren waren es noch zwei von drei Frauen im gleichen Alter. Man sieht also eine Zunahme. Die Erwerbstätigenrate der Männer liegt historisch gesehen seit jeher über 80%. Sie ist somit deutlich höher. Im deutschsprachigen Raum befinden wir uns mit dieser Frauenerwerbstätigenquote statistisch gesehen im Mittelfeld. Im italienischen Vergleich steht Südtirol mit 74% sehr gut da. Eine hohe weibliche Erwerbsbeteiligung ist auf jeden Fall positiv».


    Inwiefern positiv?
    «Eine hohe weiblich Erwerbsquote ist ein Zeichen für eine moderne Gesellschaft. Frauen, die ihr eigenes Geld verdienen, sind weniger abhängig und können dadurch auch selbstbewusster durchs Leben gehen. Das wiederum hat positive Auswirkungen auf die Gesellschaft». 


    Der Schein trügt allerdings ein wenig, immerhin arbeiten viele Frauen in Teilzeit, richtig?
    «Ja, das stimmt. Und die Konsequenz ist ganz klar, auch wenn Frauen erst später damit konfrontiert sind. Nämlich in der Pension. Wer in Teilzeit arbeitet, kommt auf eine geringere Rente. Das führt zu vermehrter Altersarmut. Frauen tun dies natürlich nicht aus Spaß, sondern weil sie müssen bzw. weil der familiäre Kontext das oftmals einfordert. Kindererziehung, Pflege und Hausarbeit lasten weiterhin mehrheitlich auf den Schultern der Frauen und sie haben oft keine andere Wahl, als das mit Teilzeitarbeit auszugleichen».


    Hausarbeit, Pflegearbeit und Kinderbetreuung haben einen großen Wert für unsere Gesellschaft und sind dennoch „unbezahlte Arbeit“. Welche geschlechterspezifischen Unterschiede bestehen hier?
    «Dazu gibt es ganz neue Daten und sie bringen wenig überraschende Ergebnisse: Frauen verwenden deutlich mehr Zeit für die Hausarbeit als Männer. Durchschnittlich arbeiten 40% der Frauen zwischen 10 und 30 Stunden pro Woche unbezahlt im Haushalt. Bei Männern zeigt nur einer von fünf Männern ähnlich viel Einsatz. Bei 30-40 Stunden „unbezahlter Arbeit“ sind es hingegen 10x so viele Frauen wie Männer. Wir sprechen hier von der klassischen „Vollzeit-Hausfrau“. Weitere 10% der Frauen verrichten sogar mehr als 40 Stunden unbezahlte Arbeit. Sie leisten die unbezahlte Arbeit im Grunde, damit ihre Männer einer Vollzeitbeschäftigung nachgehen können. Sie pflegen ältere Menschen, erziehen die Kinder und verrichten die Hausarbeit».

  • Im deutschsprachigen Raum befinden wir uns mit dieser Frauenerwerbstätigenquote statistisch gesehen im Mittelfeld. Im italienischen Vergleich steht Südtirol mit 74% sehr gut da

  • Aus den Daten geht auch hervor, dass wesentlich mehr Frauen im öffentlichen Dienst arbeiten. Warum und was lässt sich daraus ableiten?
    «Ich denke die Gründe sind zweierlei. Der öffentliche Dienst bietet ganz klar Leckerbissen, die ihn schmackhaft machen, darunter der ausgedehnte Mutterschutz. Bei unbefristet Angestellten sind es drei Jahre. Davon kann man in der Privatwirtschaft nur träumen. Es ist aber auch eine Frage der Berufswahl: Kindergärtnerinnen, Lehrerinnen, Krankenpflegerinnen - all diese Berufe weisen einen hohen Frauenanteil auf und sind im öffentlichen Dienst angesiedelt. Bestimmte Berufe gibt es fast nur im öffentlichen Dienst, die meisten sozialen Berufe gehören hier dazu. Viele Frauen arbeiten also schlichtweg aufgrund ihrer Ausbildung und bevorzugten Berufswahl im öffentlichen Bereich». 


    Berufe im Sozialbereich sind also immer noch "klassische Frauenberufe"?
    «Ja, wenn wir uns die Zahlen der Fachkräfte in Kindergärten und allgemein im pädagogischen Bereich anschauen, stellen wir fest, es gibt hier fast nur Frauen. Weitere Berufe, die sehr frauenlastig sind, sind die Kategorien Schönheitspflege und Kosmetik. Hier ist der Frauenanteil auch weit jenseits der 90%. Alle Berufe, die sich in erster Linie mit der Arbeit mit Menschen beschäftigen, scheinen also Frauen zu gefallen. Und das ist auch in Ordnung. Ich möchte hier keine Lanze brechen, dass Frauen andere Berufe ergreifen sollten. Jede soll den Beruf wählen, den sie gerne möchte. Diese Berufe sind verhältnismäßig allerdings schlechter bezahlt. Das ist ein Fakt. Und das, obwohl sie für die Gesellschaft extrem wichtig sind».


    Wieso ist das so?
    «Viele dieser Berufe wurden in der Vergangenheit nicht so ernst genommen und nicht so hoch angesehen wie beispielsweise eine Ingenieurstätigkeit. Eine Denkschule sagt hier, dass sie deshalb schlechter bezahlt werden- Stichwort „Das kann ja jeder!“. Eine andere sagt hingegen, dass Frauen bei Gehaltsverhandlungen schneller nachgeben, sich nicht so gut durchsetzen können wie ihre männlichen Kollegen und sie deshalb weniger verdienen». 


    Stimmt es, dass es immer noch Gehaltsunterschiede zwischen Frauen und Männern in der gleichen Berufsgruppe gibt? 
    «Die geschlechtsbedingte Lohnlücke – auch Gender Pay Gap genannt -ist das Ergebnis von vielen verschiedenen Faktoren. Bewusste Ungleichbezahlung findet allerdings kaum statt. Bedingt durch den gewählten Beruf, die Tätigkeit in Führungspositionen und die geleisteten Überstunden kommt es aber auf jeden Fall zu erkennbaren Unterschieden auf dem Lohnzettel von Mann und Frau. Man kann auch nicht abstreiten, dass Frauen oft den Kürzeren ziehen. Es bleibt eben viel an den Frauen hängen: Wer die sogenannte Sorge-Arbeit verrichtet und deshalb Teilzeit arbeiten muss, hat vorne ein dickes Minus stehen. Unternehmen wissen das und haben dies bei der Personalwahl wohl oft im Hinterkopf. Das ist ein systemisches Manko, denn damit werden jene benachteiligt, die gesellschaftlich wichtige Arbeit verrichten». 

  • Im Industriezeitalter stechen Männer Frauen durch ihre theoretisch ständige Verfügbarkeit auf dem Arbeitsmarkt von vorneherein aus

  • Das bedeutet in anderen Worten: „Kinder sind ein Segen, aber nicht für die Karriere“ richtig
    «Nicht für jene von Frauen, nein. Bei der Geburt des ersten. Kindes sieht man deutlich den „Kinderknick“ in der weiblichen Erwerbsbiografie. Ab dem 1. Kind gehen die Erwerbstätigkeit und das Einkommen der Mütter nach unten. Die Väter arbeiten hingegen konstant weiter. Die Geburt des ersten. Kindes hat auf Väter, wenn schon, dahingehend Auswirkungen, dass er noch mehr arbeitet. Bei Frauen gehen sämtliche Arbeitsindikatoren zurück. Viele Frauen kündigen oft auch in einem zweiten Moment. Als häufigster Kündigungsgrund wird angegeben, dass die helfenden Familienangehörigen für die Kinderbetreuung fehlen bzw. das Betreuungsangebot unzureichend ist». 


    Denn um ein Kind zu erziehen braucht es ein ganzes Dorf.
    «Genau. Der zweithäufigste Grund, der genannt wird, ist der Mangel an Teilzeitmöglichkeiten bzw. das fehlende Angebot an flexiblen Arbeitszeiten. Später rächen sich dann aber die Jahre, in denen man nicht ins Pensionssystem eingezahlt hat».


    Welche Empfehlungen können Sie Frauen basierend auf den vorliegenden Daten mit auf den Weg geben?
    «Das ist schwierig zu beantworten, denn ich will ja niemandem etwas vorschreiben. Alle sollen das machen, was sie gerne tun, und die Berufe wählen, die sie gerne ausüben. Wenn das im sozialen Bereich ist, dann ist das so. Es sind die Rahmenbedingungen, die gestärkt werden sollten. Die Rahmenbedingungen für Sozialberufe müssen besser werden. Das ist auch im Sinne unserer Gesellschaft. Ich verwehre mich dagegen, dass den Frauen die Schuld zugeschrieben wird, dass sie schlechter verdienen, nur weil sie das arbeiten, was ihnen Freude macht. Die sozialen Berufe müssen vielmehr aufgewertet werden».


    In den letzten 15 Jahren ging der Trend dahin, dass man versuchte Frauen in die MINT-Richtung zu „schubsen“. Ist das auch falsch?
    «Grundsätzlich ist es richtig, allen Jugendlichen unabhängig von Geschlecht und Stereotypen die gesamte Bandbreite and Ausbildungsmöglichkeiten aufzuzeigen und ihnen damit einen Gesamteindruck zu vermitteln. Jedoch sollte sich niemand entgegen den eigenen Interessen und Talente dazu gezwungen fühlen, einen Beruf zu ergreifen, der nicht dem persönlichen Wunsch entspricht. Kein Mensch soll für gesellschaftliche Vorstellungen oder Vorgaben verzweckt werden. Ivan Illich, ein origineller Denker der 70er und 80er Jahre, hat in seinem Buch „Genus - Zu einer historischen Kritik der Gleichheit“ im Jahr 1983 eben diese Verzweckung des Menschen im Industriezeitalter als „neutrale Arbeitskraft“ kritisiert. Das Geschlecht interessiert nicht, wichtig ist die Verfügbarkeit. Laut ihm hatten Frauen und Männer im vorindustriellen Zeitalter komplementäre Rollen, sie ergänzten sich. Beide trugen nach ihrem Vermögen und ihren Fähigkeiten zum Gedeihen des „Domus“, also des Hauses bei. Was danach kam, hat sich zu einer strukturell schiefen Ebene zu Ungunsten der Frauen entwickelt, weil im Industriezeitalter Männer Frauen durch ihre theoretisch ständige Verfügbarkeit am Arbeitsmarkt von vorneherein ausstechen. Denn sie müssen die Kinder weder austragen, noch tragen sie in der anschließenden Betreuung laut Daten gleichwertig bei. Die Ausführung unbezahlter Arbeit von Frauen hat sich nicht proportional verringert, als mehr Frauen erwerbsfähig wurden. Und das benachteiligt Frauen am Arbeitsmarkt, weil sie den Rucksack an unbezahlter Arbeit auch noch tragen. Mit der Digitalisierung und Robotisierung wird sich diese Spirale aber noch weiterdrehen – auch für uns Männer, weil ein Roboter und eine Software sind als „Arbeitskraft“ eben ständig verfügbar. Beide Geschlechter könnten dann im schlimmsten Falle wirklich überflüssig werden, auch in kreativen Berufen».

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