Die Bozner Schutzbefohlenen
Ein Mann stellt sich auf, mittig-rechts im dunklen Bühnenraum, er trägt ein weißes Hemd und schwarze Hosen, dazu Neoprenschuhe, denn er steht im Wasser, er spricht nach, was er aus seinen Kopfhörern hört. Da sind Stimmen, im Dialekt und auf Italienisch, Stimmen die von Südtiroler Befindlichkeiten erzählen - was man so hält von den Flüchtlingen, von der ganzen veränderten Situation in Europa.
Benno Steinegger ist der Mann mit den Kopfhörern, er hat laut Programmheft selbst die Interviews während der Probenarbeiten geführt und nun sind diese Tondokumente Teil der VBB-Inszenierung zu Elfriede Jelineks „Die Schutzbefohlenen“. Es hätte sie nicht gebraucht, denn Jelinek selbst hat schon sämtliche Facetten zum Thema in einer atemberaubenden Text-Suada 2013 zum ersten Mal niedergeschrieben, und zudem seit damals laufend aktualisiert. So sind zum Originaltext inzwischen drei Erweiterungen gekommen, Appendix, Coda und Epilog, die noch mehr und aktueller von den Ereignissen und Schicksalen der Hunderttausenden erzählen, die in den letzten Jahren über gefährliche Fluchtwege nach Europa kommen. Material in Hülle und Fülle also. Regisseurin Jessica Glause wollte offenbar eine Südtiroler Adaption schaffen, die das Thema auch hier verankert sieht, jedoch beißen sich die ungefilterten Interview-Aussagen mit der Kunstsprache Jelineks, auch wenn beide von denselben Ereignissen sprechen.
Ausgang für Jelineks Theatertext ist das „Refugee Protest Camp Vienna“, als 200 protestierende Asylbewerber aus dem österreichischen Auffanglager in Traiskirchen zuerst in einem Wiener Park, dann in der dortigen Votivkirche Schutz vor Ausweisung suchen; auch die Bootskatastrophen mit Hunderten von Ertrunkenen vor Lampedusa gaben Anlass für den Text, sagt Jelinek. So viel Elend, so viel Text.
Denn es ist ein wahres Wörtermeer, das die Nobelpreisträgerin hier anbietet, es gibt weder Handlung, noch eine Einteilung in Akte oder Szenen, auch keine Rollen. Die Schauspieler – in Bozen sind es sechs – teilen sich die Passagen, einzeln oder im Chor – und stehen dabei, symbolisch passend, knöcheltief im Wasser. Damit lässt sich einiges anfangen, es ist das motivgebende Element dieser Inszenierung (Ausstattung Mai Gogishvili). Die Schauspieler (Bettina Grahs, Karin Yoko Jochum, Johannes Meier, Hannes Perkmann, Lukas Spisser und Benno Steinegger) gehen mit Besenschiebern gegen die Fluten an oder kreieren hübsche Wellenmuster, sie lassen schwarze Papierschiffchen schwimmen und waten selbst knieend und robbend durch das Nass. Einmal liegt einer auch da, so wie die angeschwemmten Körper an den Küsten von Lesbos oder Lampedusa. Schockmomente.
Regisseurin Jessica Glause hat den Schauspielern viel zu tun gegeben, fast hat es den Anschein, als wären sie dadurch vom Text abgelenkt; stark sind jene Passagen, in denen uns die Darsteller die Worte an den Kopf schmeißen und nicht bittend, sondern fordernd auftreten, in denen sie als die Flüchtenden und Verstoßenen sprechen. Doch Glause hat ihnen europäische Kleider angezogen, wir sind es, die dort sprechen und bedenken und räsonnieren. Bei der Hamburger Uraufführung hat Regisseur Nicolas Stemann hingegen mit Flüchtlingen gearbeitet, einem ganzen Flüchtlingschor, der die Inszenierung dominierte und so etwas wie eine zusätzliche Wirklichkeit abgab; am Burgtheater in Wien hingegen gab es keine echten Flüchtlinge zu sehen, die Schauspieler deklamieren im Chor unter Michael Thalheimers Anleitung; auch dort Wasser am Boden und die gekürzte Fassung, die ebenfalls in Bozen gezeigt wird.
Wirklichkeit am Theater muss inszeniert sein, das war auch so, in der VBB-Inszenierung manchmal ein wenig zu gekünstelt, zu artifiziell. Zum Schluss gab es noch einen letzten gewaltigen Ansturm, ein Entern der Publikumsreihen? Es blieb bei der Möglichkeit.