Nur zur Miete
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Keine Sorge, wer sich an der Zahl im Vorspann erschreckt hat, so lange wird der Abend nicht. Er geht „nur“ zweieinhalb Stunden und nicht ein Jahr. Warum ein Jahr? Ich formuliere es neu: „Five hundred, twenty five thousand, six hundred minutes…“ Wenn Sie in ihrem Kopf „How do you measure, measure a year?“ angefügt haben, dann ist auch an Ihnen Jonathan Larsons 1996er-Musical-Klassiker nicht spurlos vorübergegangen. Der Song „Seasons of Love“, der häufig in Kampagnen zur AIDS-Prävention und Aufklärung zum Einsatz kommt, ist dabei geschickt und wiederholt genutzt. Man wird auch bis zum Ende durch Variation nicht müde davon.
Die Großinszenierung, in etwa mit dem Spektakel der „Rocky Horror Show“ vergleichbar, mit dem der Regisseur – da wie dort Rudolf Frey – auch seine Intendanz bei den Vereinigten Bühnen Bozen angetreten hat, bringt eineinhalb Jahre darauf Musical-Nachschub. Man beginnt jedoch bescheiden, bei einem Ende quasi: Der Vorhang öffnet sich einer zu guten Teilen schwarz abgedeckten Bühnensituation, Figuren sehen wir in und vor einem ausgespartem Loch, das ein wenig ans Ende eines alten Films erinnert. Gleichzeitig verweist man auch auf die Enge unserer Ausgangssituation. Die Künstler Mark und Roger wohnen gemeinsam in einer New Yorker WG, gelegen in einem zu ihrem Unglück vor kurzem hip gewordenen Viertel. Sie sollen mehr an Miete zahlen, man dürfte sich wohl etwa so viel an Quadratmeterpreisen erwarten wie am Bozner Waltherplatz. -
Angeknackst: Nele Neugebauer im Vordergrund, dahinter Aloysia Astari und Benedikt Berner. Vor Beginn des Abends kam Intendant Rudolf auf die Bühne, um darauf hinzuweisen, dass Neugebauer auf Grund eines kleinen Probeunfalls ihr Choreografie vereinfachen muss. Hätte Frey nichts gesagt, die wenigsten hätten es geahnt. Foto: Marco Sommer
Schnell, nach einer halben Gesangs-Nummer (Der Songwriter Roger hat eine kreative Blockade), kommt das Schwarz zur Verdunklung weg und der Bühnenraum öffnet sich auf eine größere Szene, die mit Stahlskeletten von Gebäuden den New Yorker Bau-Charme evoziert. In der Zwischenzeit hatte man eben jenes Schwarz genutzt, um uns nach und nach mit unserem Ensemble-Cast in ihren Rollen vertraut zu machen. Nicht weniger als 14 Musical-Darsteller:innen teilen sich die Bühne miteinander und singen sich ihr Herz aus der Brust. Das Rock-Musical hat nicht nur durch die große und offen liegende Inspiration durch Giacomo Puccinis „La Bohème“ Opernzüge, sondern auch durch seine Figuren, allesamt Künstler:innen, wie es sich fürs New Yorker East Village ziemt.
Neben Roger und Mark sind das etwa Maureen, eine bisexuelle Performancekünstlerin, die Tänzerin Mimi und die Dragqueen Angel. Viele von ihnen und der weiteren Rollen sind queer und HIV-positiv. Auf die Ausgrenzung und Anfeindung von außen reagieren die Freunde mit Solidarität zueinander. Dieser Trotz gegenüber einer Ausgrenzung von LGBTQ-Personen dürfte den Stoff auch heute wieder in seinem Herkunftsland, den USA, brandaktuell machen. Spätestens seit die Aids-Forschung und der Zugang vieler Menschen zu Information und Medikation auf der Kippe steht, wenn nicht schon seit der Trump-2025-Kampagne bei der von den Republikanern mehr als 20 Millionen Dollar für sogenannte „anti trans-adds“ ausgegeben wurden, dürfte klar sein, wo die Rechte ein vermeintlich „einfaches“ Ziel ausmacht.Stimmgewalt: Besonders sängerisch hervortuen konnte sich etwa Naomi Simmonds, als Tänzerin Mimi. Foto: Marco SommerStatt dem moralischen Zeigefinger setzt man auf fürs Musical bewährteres: Spannende Arrangements die von intim bis bombastisch-polyrhythmisch ausfallen und Spektakel. Da müssen neben Bühne und Videoprojektionen (Ayse Gülsüm Özel) und dem Gesang natürlich insbesondere auch die Kostüme stimmig sein. Aleksandra Kica hat die 90er zurück auf die Bühne gebracht und es wurde „grungy“ und bunt. Besonders Maureens Kostüm, das David Bowies Kunstfigur Ziggy Stardust nachempfunden ist, samt einer wohl mit einer Küchenwaage messbaren Menge an Haar-Spray für den Vokuhila, ist ein Paradestück. Selbst dieser Zauber füllt aber keinen Bauch und wärmt kein Heim, das ohnehin nur gemietet ist.
Umso mehr braucht es die Liebe und von der gibt es am Abend im Stadttheater eine fette Portion. Gesungen wird mehrheitlich auf Deutsch, wobei für „Seasons of Love“ natürlich auch eine Ausnahme gemacht werden sollte. Ohne viel Zeit zwischen den einzelnen Songs, die die Handlung mehr noch vorantreiben als der gesprochene Dialog, ist „Rent“ ein dichter Abend, der auch mit der Zeit spielt. Weihnachten, Silvester, ein Valentinstag – jeder Zeitsprung führt zu einer dieser Daten, bei denen wohl nicht nur Filmemacher Mark und Co. auf die Rückspiel-Taste drücken. An solchen Tagen „messen“ wir oft ein Jahr. Sieht man dort, wenn man zurückblickt, genug Liebe in einem Jahr, für sich selbst, wie auch für andere?
Unser Cast verharrt nicht lange in seiner Schockstarre, auf den Tod einer Person folgt wieder ein Zusammentreffen der Gruppe. Auch Wahlfamilien sehen sich manchmal nur an Weihnachten und zu Beerdigungen. Das „Es zählt nur das Jetzt“, vielstimmig vorgetragen und mit ordentlich Strom hinter der Gitarre der im Orchestergraben (Leitung: Stephen Lloyd) unsichtbaren Live-Band hinterlegt, fühlt man unter der Haut. Man kann diesen Hedonismus, der mit einer damals als Todesurteil geltenden Krankheit, dem HI-Virus einhergeht, vielleicht auch besser nachvollziehen als jene Zügellosigkeit der Figuren in „La Bohème“. Carpe diem ist sicher nichts Neues, aber einmal nach Amerika ausgewandert und zurückgekehrt, gibt der klassische Opernstoff aktuell mehr her, als wenn er in Italien geblieben wäre. Dem geneigten Musical-Publikum machen Rudolf Frey und seine Truppe hier ein Geschenk. Das Premierenpublikum dankt es ihnen mit kräftigem und trotz der Länge des Abends (2 Stunden 45 Minuten mit Pause) ausgiebigem Applaus. Das nächste mal ist „Rent“ am Mittwoch zu sehen.BesetzungMark Cohen - Florian Minnerop
Roger Davis - Til Ormeloh
Tom Collins - Calum Melville
Benjamin "Benny" Coffin III - René Dalla Costa
Joanne Jefferson- Vanessa Weiskopf
Angel Dumott Schunard - Leon de Graaf
Mimi Marquez - Naomi Simmonds
Maureen Johnson - Nele Neugebauer
Mrs. Jefferson, Sue, Frau in Decken, Verkäuferin / Mantelverkäuferin, Obdachloser - Aloysia Astari
Mrs. Cohen, Ali, Polizistin, Händlerin, Ein Mädchen, Obdachloser - Anna Fink
Pam, Obdachlose, Junky, Alexi Darling, Roger's Mutter - Lorena Brugger
Mr. Jefferson, Paul, Squeegie Man, Der Mann, Rodney, Obdachloser - Benedikt Berner
Obdachloser, Gordon, Polizist, Pastor - Lukas Strasheim
Steve, Obdachloser, Junky, Kellner, Mimi's Mutter - André Naujoks