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Sieg contra Freiheit

Bozen und Riga werden wohl selten in einem Atemzug genannt. Historisch bestehen allerdings Parallelen. 
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Foto: Udo Bongartz

Die Eroberer ließen in beiden Städten Arbeiter aus anderen Regionen ansiedeln, um die Eroberten zur fremdbestimmten Minderheit zu degradieren. Bis heute verursachen die gegensätzlichen Erinnerungskulturen von Letten und Russen Spannungen. Zwei Monumente verkörpern den Zwist der gespaltenen Bevölkerung.


Der größte Park des Stadtgebiets der lettischen Hauptstadt, das sich westlich der Daugava befindet, wirkt im Winter kahl, leer und unbehaglich. Das mehr als 30 Hektar große Gelände besteht hauptsächlich aus einer großen Wiese in weitläufiger, etwas trister Vorstadtlandschaft. Zar Nikolaus II. weihte 1910 die Fläche als Siegespark ein, um den 200jährigen Anschluss der baltischen Provinzen an Russland zu feiern. Ende des Ersten Weltkriegs befreiten sich die Letten von der Zarenherrschaft und gründeten erstmals einen eigenen Staat. Der Siegespark blieb. 

Das Siegesdenkmal

Sein Name blieb auch für die neuen Eroberer im Zweiten Weltkrieg nützlich, für Sowjets und Reichsdeutsche, die Rigaer Straßen abwechselnd nach Lenin bzw. Hitler benannten - doch der Siegespark blieb Siegespark. Den konnten zuletzt die Bolschewisten für sich beanspruchen. Gleich nach Kriegsende wurde der Park ihre Richtstätte. Hier starb am 3. Februar 1946 der Höhere SS- und Polizeiführer Friedrich Jeckeln öffentlich den Galgentod, nachdem ein sowjetisches Militärtribunal ihn wegen Beteiligung an Kriegsverbrechen und Holocaust verurteilt hatte.
Seit Mitte der 80er Jahre schmückt ein monumentales Siegesdenkmal den Siegespark. Die 79 Meter hohe, weißgraue, fünfgliedrige Betonsäule, deren unterschiedlich hohe schräge Spitzen fünf bronzene (nicht rote) Sterne krönen. Sie erinnert etwas an eine verlassene Raketenabschussrampe. Rechts wird sie von einer düsteren Figurengruppe siegreicher Soldaten ergänzt, die in ihrer plumpen Gestalt eher komisch als heroisch und martialisch wirken, links begrüßt eine Siegesgöttin im gleichen Stil die steinernen Helden. 

Jedes Jahr versinkt das steinerne Podest der Anlage in einem Blumenmeer. Am 9. Mai versammeln sich viele Tausende vor einer aufgebauten Konzertbühne. Händler bieten Militaria an und Alkohol hebt die Stimmung.

Die fünf Sterne stehen für fünf Kriegsjahre, das verdeutlicht die Inschrift am Betonsockel: “1941☆1945”. Für Stalin begann der Große Vaterländische Krieg erst mit Hitlers Barbarossa-Feldzug 41, für Letten aber schon ein Jahr zuvor, als die Rote Armee das Land überfiel, nachdem Stalin und Hitler paktiert und Osteuropa unter sich aufgeteilt hatten. Tschekas begannen sogleich mit Erschießungen und Deportationen in die sibirische Wildnis. Als im Sommer 41 die Deutschen einfielen, standen Letten in den Straßen Spalier, um deutsche Wehrmachtsoldaten samt SS als Befreier zu begrüßen. Das war ein fürchterlicher Irrtum: Der Holocaust begann und lettische Männer wurden für die SS-Legion rekrutiert, meistens zwangsweise für einen Kampf, der nicht ihrer war. Vier Jahre später kamen die Rotarmisten zurück - Lettland wurde erneut und nun für lange Jahrzehnte Sozialistische Sowjetrepublik.
Das Denkmal erinnert an die Befreiung vom Faschismus; das weckt bei russischen und westlichen Besuchern gute Gefühle. Letten schreiben "atbrivosana", Befreiung, distanzierend in Anführungszeichen. Sie nennen die fünfgliedrige Säule “Leichenfinger”. Sie erinnern die von den deutschen Besatzern Befreiten an die bolschewistische Siegespropaganda, die willkürliche Hinrichtungen, Verschleppung in Gulag-Lager und Unterdrückung der lettischen Sprache verschleierte und die Kritik an den glorreichen Siegern als Faschismus brandmarkte. 
Am 6. Juni 1997 geriet die sowjetische Hinterlassenschaft einmal international in die Schlagzeilen. Im nun wieder unabhängigen Lettland hatten Donnerkreuzler ein metergroßes Loch in den Säulenfuß gesprengt. Die Säule blieb standhaft, zwei der rechtsextremistischen Attentäter starben, zehn wurden später festgenommen, zuletzt ihr Anführer, der sich zwei Jahre lang im Wald versteckt gehalten hatte. Der Schaden wurde ausgebessert. Seitdem forderten Initiativen mehrmals den Abriss. Aber das Außenministerium wies darauf hin, dass ein lettisch-russischer Vertrag die Regierung verpflichte, das Denkmal zu erhalten. Daran könne kein Parlamentsbeschluss etwas ändern. 
Für den russischsprachigen Teil ist das Monument Zentrum seines antifaschistischen Gedenkens. Jedes Jahr versinkt das steinerne Podest der Anlage in einem Blumenmeer. Am 9. Mai versammeln sich viele Tausende vor einer aufgebauten Konzertbühne. Händler bieten Militaria an und Alkohol hebt die Stimmung. Bis in jüngster Zeit kam auch der Rigaer Bürgermeister, dessen sozialdemokratische Partei die Interessen der russischsprachigen Minderheit vertritt. Doch inzwischen haben sich die Mehrheiten im Stadtrat verändert. Als 2004 eine der fortwährenden lettischen Mitte-Rechts-Regierungen erstmals beschloss, Russisch als Unterrichtssprache an den Minderheitenschulen stark einzuschränken, entwickelte sich die Siegesfeier zu einer Protestkundgebung.

Der Übergang

Vom Siegesdenkmal gelangt man über den Siegesboulevard zur Steinbrücke, die die Daugava überquert. Am anderen Ufer befindet sich das Okkupationsmuseum. Hier zeigen Letten Artefakte der Repression, die mit der Sowjetherrschaft verbunden waren, Relikte aus den sibirischen Lagern, Statistiken, die verdeutlichen, wieviele Menschen aus anderen Regionen der UdSSR immigrierten und die sich nur selten um das Lettische bemühten. Die Sprache der Einheimischen war zwar nicht verboten, doch in Gegenwart von Russischsprachigen war sie verpönt; am Arbeitsplatz und in der Öffentlichkeit wurde fortan Russisch erwartet. 
Das Okkupationsmuseum aus den siebziger Jahren ist ein neobrutalistischer Klotz, ein Fremdkörper in der malerischen, einst von Deutschbalten geprägten Altstadt. Er wird gerade renoviert und erweitert. Vor ihm ist eine Skulptur aus drei haushohen, aus rötlichem Granit gehauenen Mannsbildern postiert. Sie verkörpern die lettischen Roten Schützen, die an Lenins Seite für den Sieg des Sozialismus kämpften. In sowjetischer Zeit war das Museum ihren Heldentaten gewidmet. Nun dient es der Erinnerungskultur der Letten, die sich zwar (noch) nicht in Riga, aber im gesamten Land in der absoluten Mehrheit befinden. Von russischer Seite werden bolschewistische Repressionen angezweifelt. Das russisch orientierte Webportal Sputniknewslv setzt den Begriff "padomju okupacija", sowjetische Okkupation, in Anführungszeichen. 

Das Freiheits- bzw. Nationaldenkmal

Geht man schnurstracks weiter über die enge Gasse der Kalku iela, gelangt der Flaneur zum Freiheitsplatz. Er befindet sich von der Daugava symmetrisch weit entfernt wie das Siegesdenkmal des anderen Ufers. In zaristischer Zeit zierte hier ein Reiterstandbild Peters des Großen auf hohem Podest den Raum zwischen Rigas ältesten Häusern der hanseatischen Altstadt und den Jugendstilfassaden der Neustadt oberhalb des Stadtkanals und inmitten des gepflegten Parks, der die einstige Stadtmauer ersetzte. 
Die idyllische Parklandschaft überragt heutzutage ein Obelisk auf stattlichem Sockel, den zahlreiche Relief-Motive heroischer Erinnerungskultur zieren. Auf seiner Spitze steht Milda, eine stilisierte Frauengestalt, die drei goldene Sterne in ihren hoch gestreckten Händen hält. Auf der der Altstadt zugewandten Podestseite befindet sich unter der martialisch gewappneten “Mutter Lettland” die Inschrift “Für Vaterland und Freiheit”, ehrenbewacht vom lettischen Militär. Der Bildhauer Karlis Zale entwarf das Monument in den zwanziger Jahren zum Gedenken an den Befreiungskampf der Letten, den sie sich am Kriegsende gegen Deutsche, Deutschbalten, Russen und Bolschewisten geliefert hatten. Zale gestaltete in dieser Zeit auch Rigas Soldatenfriedhof, auf dem bis heute geschichtsvergessen die Namen Mussolinis und einiger NS-Kollaborateure verewigt sind. Als das Nationaldenkmal 1935 eingeweiht wurde, hatte Staatsgründer und Mussolini-Verehrer Karlis Ulmanis die lettische Republik in eine nationalistische Diktatur verwandelt, in der das Motto “Lettland den Letten” galt.
Die bolschewistischen Machthaber haben angeblich mehrmals die Sprengung des Obelisken geplant. Doch die Beseitigung des zentralen lettischen Denkmals erschien schließlich doch zu heikel. Statt dessen versuchte die Sowjetpropaganda die Symbolik zu verändern: Mildas drei goldene Sterne sollten nicht mehr die drei lettischen Regionen darstellen, sondern die baltischen Brudervölker Estland, Litauen und Lettland, in den Händen von Mutter Russland gehalten. Auch diese Propaganda erwies sich als derart plump, dass sie die gegenteilige Wirkung erzielte: Die Letten identifizierten sich mit Milda, sie war wie die verbotene lettische Nationalflagge ein Zeichen der Hoffnung.
Am 14. Juni 1987 organisierten Oppositionelle eine Kundgebung zum Gedenken an die erste sowjetische Massendeportation. 5.000 Menschen versammelten sich und umkränzten das Denkmal mit einem Blumenmeer. Die Zeit der Singenden Revolution begann, mit gewaltlosem Widerstand, Liedern statt Waffen, gelang es den Letten, sich von sowjetischer Herrschaft zu befreien. 
Jene, die 1991 die Unabhängigkeit erlangten, waren durchaus nationalistisch gesinnt und bestrebt, die sowjetischen Verhältnisse einfach umzukehren. Mehrere hunderttausend Russen, die im Land lebten, wurden zu “Nichtbürgern” erklärt. Strikte Sprachgesetze verboten fortan die russische Schrift auf den Schildern. Russen, die als Lehrer, Anwälte oder Polizisten kein Lettisch beherrschten, riskierten, ihren Arbeitsplatz zu verlieren. Einige Oppositionelle gründeten später nationalkonservativ bis rechtsradikal gesinnte Parteien, die heutzutage zur “Nationalen Allianz” vereint mitregieren. 

 

Vor dem zentralen Gedenkort Lettlands findet alljährlich am 16. März ein bizarres Spektakel statt, das zuletzt pandemiebedingt ausfiel. Sonst schreiten an diesem Tag noch lebende SS-Legionäre gemeinsam mit Angehörigen und Sympathisanten vom Rigaer Dom kommend zur Milda, die letzten Meter flankiert von einem lettischen Fahnenspalier, das die nationalkonservative Jugend bildet. Das Gelände wird von vielen Polizisten abgesperrt, die die antifaschistischen Gegendemonstranten fernhalten, zuweilen bei Ordnungswidrigkeiten auch festnehmen. Obwohl die meisten jungen Männer unfreiwillig für die SS-Legion an der Seite der Deutschen Wehrmacht rekrutiert wurden, gedenken diese Veteranen einer gewonnenen Schlacht gegen die Rote Armee und sind offenbar überzeugt, damit Gutes für ihr Land bewirkt zu haben. 
Der lettischen Regierung ist die internationale Aufmerksamkeit für die SS-Legionäre unangenehm und sie hat Kabinettsmitgliedern verboten, an der Kundgebung teilzunehmen. Echte Vergangenheitsbewältigung ist damit nicht verbunden. Im letzten Jahr bezeichnete der lettische Verteidigungsminister Artis Pabriks die SS-Legionäre sogar als “Helden”, das hatte bis dahin noch kein offizieller Vertreter gewagt.  
Lettische Hilfspolizisten bewachten das jüdische Getto und flankierten die Massenerschießungen der NS-Täter, denen lettische Juden zum Opfer fielen. Manche SS-Legionäre waren nicht nur Soldaten gewesen, sondern hatten auch in Polizeibatallionen gedient, die den Deutschen beim “großen Morden”  in Weißrussland beiseite standen. Die Kollaboration mit deutschen Nazis ist kein Thema der antibolschewistisch geprägten Erinnerungskultur. Die Inschrift “Für Vaterland und Freiheit” wird von nationalkonservativer Seite als Freiheit für ein paternalistisches Vaterland verstanden; gegen individuelle Freiheiten für sexuelle Minderheiten, Migranten und Geflüchtete polemisiert Lettlands politische Rechte fortwährend. Antifaschistische Kritik wird als russische Propaganda zurückgewiesen.

Suche nach Auswegen

Lettische Politiker haben sich damit abgefunden, dass sie das sanierungsbedürftige Siegesdenkmal erhalten müssen. Nachdem sie im letzten Jahr erneut eine Petition mit über 10.000 Unterschriften dazu aufforderte, das “Symbol der sowjetischen Okkupation” zu entfernen, beschloss eine parlamentarische Mehrheit gegen den Willen der Sozialdemokraten, eine Kommission einzusetzen. 
Die Abgeordneten wollen unter dem Vorsitz eines Nationalkonservativen über eine Umbenennung des Siegesdenkmals beraten. Zudem erwägen sie, eine Gedenktafel anzubringen, die darüber informiert, was der 9. Mai 1945, der Tag des Kriegsendes, für Letten bedeutete. Der liberale lettische Parlamentarier Arvils Aseradens scheint in der Diskussion um Ausgleich bemüht: “Für einen Teil der Gesellschaft ist [der 9. Mai] natürlich ein Fest, für den anderen trägt er die schwere Last der Okkupation. Unser Auftrag müsste es sein, mit einem Gesetz eine Möglichkeit zu finden, wie man bestimmt, wie man an einem staatlich geschützten Denkmal Zeichen anbringt, welche den Sinn des Ereignisses sowohl der lettischen Gesellschaft, der jungen Generation Lettlands als auch ausländischen Gästen erklärt, die nach Lettland reisen.”  Der sozialdemokratische Abgeordnete Nikolajs Kabanovs zeigte sich skeptischer: “Mir scheint, dass die Bedeutung eines Denkmals per Dekret nicht verändert werden lann. Man kann ein Denkmal nur physisch vernichten, aber auch in diesem Fall werden die Menschen Kränze bringen und die Erinnerung bewahren.” Die russische Botschaft forderte die lettischen Politiker dazu auf, mit dieser Frage “sensibel” umzugehen und den beträchtlichen Teil der Gesellschaft zu beachten, der sich in einer eigenen Petition gegen den Abriss wandte.   
Die Milda begrüßte in den letzten vier Jahren nicht nur Politiker aus dem In- und Ausland zu Feiertagen und Staatsbesuchen oder nationalkonservative Demonstranten zu antibolschewistischen Umzügen. Eine Bürgerinitiative sorgte dafür, dass am 30. November an ihrem Sockel mit tausenden Kerzen den beiden Blutsonntagen gedacht wird, an denen im Spätherbst 1941 Deutsche und lettische Helfer das jüdische Getto räumten und dessen Bewohner im Wald von Rumbula erschossen. Mehr als 25.000 Menschen wurden allein an diesen Tagen ermordet. Anwesend war im letzten Jahr auch der lettische KZ-Überlebende und Historiker Margers Vestermanis, der gegenüber dem ORF bekundete: „Ich bin froh, dass ich bis zu diesem Moment gelebt habe, an dem am heiligsten Ort Lettlands, dem Fuße des Freiheitsdenkmals, Kerzen angezündet werden, um der großen Trauer, dem großen Kummer, des jüdischen Volkes zu gedenken.“  Verteidigungsminister Pabriks legte am diesjährigen 30. November an der Gedenkstätte in Rumbula einen Kranz nieder.