Für einen Tag des Gedenkens an alle Völkermorde
Ohne im Mindesten die menschengemachte Katastrophe der Shoah in ihrer geschichtlichen Bedeutung und Tragik zu relativieren, versucht die Genozidforschung seit Längerem auch andere Völkermordverbrechen aufzuarbeiten und zusammen mit der Shoah in einen größeren geschichtlichen Zusammenhang zu stellen. Dabei geht es nicht nur darum, das unermessliche Leid der Genozidopfer zur Kenntnis zu nehmen, sondern vor allem Ursachen und Wirkungen dieser Verbrechen vor und nach der Shoah ins Bewusstsein zu rücken, um Völkermordverbrechen zukünftig zu verhindern. Das ist von den Gründerstaaten der Vereinten Nationen mit der Konvention gegen den Völkermord schon am 9. Dezember 1948 bekräftigt worden, ohne dass dies später zu konsequentem Engagement gegen staatlich organisierten Massenmord geführt hätte. Wäre es sonst möglich, dass der Internationale Strafgerichtshof immer noch von wesentlichen Staaten wie den USA, Russland und China boykottiert wird? Wäre es sonst möglich, dass der Krieg in Syrien seit fast 3 Jahren mit über 100.000 Opfern hingenommen wird, jetzt mit etwas weniger chemischen, dafür umso mehr "konventionellen" Waffen, was für die Opfer keinen großen Unterschied macht?
Was heute immer noch fehlt, ist ein Tag des Gedenkens an alle Genozide. Nicht nur an jene des 20. Jahrhunderts, sondern auch an die früheren, die vor allem Europäer in anderen Kontinenten während des Kolonialismus zu verantworten haben: an den Indianern Amerikas, den Aboriginals und zahlreichen indigenen Völkern, von denen längst niemand mehr spricht. Das erste Genozidverbrechen des 20. Jahrhundert, im Sinne der gezielten und planmäßig durchgeführten Ausrottung eines Volkes, begingen übrigens auch Deutsche, nämlich 1904-1908 am südwestafrikanischen Volk der Herero. Der jüdische Historiker Raphael Lemkin, der den Text der Völkermordkonvention maßgeblich geprägt hat, hatte nicht nur die Vernichtung der Juden, sondern auch jene der Armenier 1915-16 und eben jenen der Herero vor Augen.
In Italien mag ein solcher Gedenktag noch fern liegen, doch anderswo wird ein solcher "Genocide Memorial Day" bereits abgehalten, wie etwa heute, 19. Jänner, in London. Diese Veranstaltung ist erstmals 2009 von der Islamic Human Rights Commission (IHRC) ins Leben gerufen worden (www.ihrc.org.uk). Über das gebotene Gedenken an die Shoah hinaus, wäre eine solche Initiative aufzugreifen, um Genozid in einen Gesamtzusammenhang der Menschheitsgeschichte zu stellen. Es reicht nicht, dass jedes in der Geschichte von Völkermord betroffene Volk sowie jene Völker, die die geschichtliche Verantwortung dafür tragen, für sich allein gedenken (was nicht immer geschieht, wie man am Beispiel der Türkei sehen kann). Vielmehr müsste die Staatengemeinschaft und die Weltbevölkerung schlechthin an einem Tag des Jahres dieser oft unglaublichen, aber manchmal gar nicht offiziell eingeräumten Verbrechen gedenken, um gemeinsam zu sagen: nie wieder.
Thomas Benedikter