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Zu den Linien

Anne Marie Pirchers Roman "Zu den Linien" erschien in der Innsbrucker Edition Laurin und wurde im Oktober vorgestellt. Von Zeiten des Übergangs.

Zu den Linien

Es trifft mich an meinem linken Bein. Auch im Kunstlicht der U-Bahn-Gänge trage ich eine Sonnenbrille, die mich den Augen der Menschen entzieht. Mein linkes Wadenbein ist so nackt und gebräunt wie das rechte. Der Sommer hat sich lange daran ausgelassen. Jetzt reißt mich dort die Kühle eines Metalls aus Gedanken, wie sie hier nur Touristen haben können. Mein Blick folgt unter der Brille der zarten Spitze eines Stockes, der alle Hindernisse, auch mich, umgehen muss. Suchend schiebt er sich auf dem schwarzen Boden, den man niemals mit bloßen Händen berühren möchte, nach vorn. Folgt dem schnurgeraden Relief, um sich einen sicheren Weg durch die Menge zu bahnen.

Karlsplatz, lese ich noch einmal, um sicher zu gehen.

Aber diese Hand. So weiß, als hätte sich nie ein Sonnenlicht darauf niedergelassen. Und dann der Ring. Jener Ring, den man an Männerhänden kennt, auch wenn man sich Jahrzehnte zurück lässt. Ein breiter Silberreif mit ausgraviertem Muster.
Ich lasse mich mit der Menschenmenge weitertreiben, bleibe aber dem Stock auf der Spur. Die Scheu, jemandem, der hilfloser ist als ich, ins Gesicht zu sehen, hält meine Neugierde im Zaum. Seine sicheren Schritte. Er trägt diese modernen, alles preisgebenden Sandalen. Flip-Flops. Die Füße genau wie die Hände. Milch, die ich lange nicht mehr getrunken habe. Über dem tiefen, dunklen Schacht, der sich nach einer rauschenden Abfahrt öffnet, erstehen großformatige Menschengesichter, die vieles versprechen. Ein junges Mädchen lacht mir mit einer Zahnspange im Mund entgegen, denn die Telefonnummer zu ihrem Bild verspricht das Ende aller Schulprobleme. Xenia, meine Große, wird übermorgen aus Katalonien zurück sein. Sie wird sich in keine Telefonnummer pressen lassen, sondern nur ihrer Freiheit folgen.

Endlich. Er bleibt hinter der gelben Linie stehen, zieht seinen Stock zu sich. Überall klingeln Mobiltelefone. Einsame, aber laute Gespräche machen mich zur Zeugin großer und kleiner Monologe. Sie klingen, so tief unter der Erde, nach Verzweiflung. Der weiche, beige Stoff seiner Sommerhose. Mit aufgesetzten Taschen. Eine dunkelbraune, aus dickem Leinenstoff gefertigte Tasche, die er, wie alle jungen Männer heute, quer trägt. Die vielen Menschen an diesem dröhnenden, unterirdischen Punkt erlauben es, dass ich in seiner Nähe bleiben kann, ohne auf zufallen. Vielleicht hätte jetzt nur noch eine Faust zwischen uns Platz. Ich reiche ihm bis zum Hals. Das weiße Hemd ist weit hinter dem Handgelenk hochgekrempelt. Man kann hier keinen Menschen atmen hören, aber an den Gerüchen kann man sich orientieren. Sein Gesicht will ich nicht sehen, noch nicht. Dafür ist es zu früh. Es muss einen Duft geben, lange bevor man sich dem Gesicht eines Menschen nähert. In zwei Minuten kommt die nächste Bahn. Bis dahin habe ich Zeit. Es ist anstrengend, wenn man durch die Nase atmen muss. Meine Augen unter der Brille beginnen zu zucken. Nüsse. Milch. Brot. Wo habe ich das zum letzten Mal geschluckt. Seine Hand, die den Stock hält. So lange bis der Geruch verewigt ist und das Vergessen nicht mehr gelingt. Honigmelisse. Bärlauch. Einatmen, bis etwas im Kopf schwindelt. Mit den Augen halte ich mich an den Versicherungsmann über dem Schacht, dem ich mein Leben in die Hand geben könnte, um es sorgenlos zu genießen. Es ist an der Zeit, haben meine Töchter gerufen, dass du dir eine andere Galaxie suchst. Aufnehmen. Noch immer. Zitrone und Lorbeer. Auch Ariel, das Waschmittel, das nicht nur sauber, sondern rein wäscht. An den Rosen im Volksgarten habe ich vergessen zu riechen. Immer diese Heldenplätze. Ich habe Thomas Bernhard nie gelesen. Habe mir nur erzählen lassen.

In ihrem neuen Erzählband „Zu den Linien“ spürt Anne Marie Pircher die Linien auf, die das Leben zeichnet – sie umkreist sie, sucht Parallelen. Martin Hanni, Kulturzeit

Er wechselt den Stock in die linke Hand, um die rechte fallen zu lassen. Dicht neben meine. Jetzt bräuchte ich nur die Finger zu spreizen und ich hätte ihn und alles im Griff. Noch eine Minute bis die Bahn kommt. Erst drinnen, in der Sicherheit des Abteils werde ich mich seinem Gesicht zuwenden. Seine feinen Härchen am Arm lassen es zu, dass ich ihn mir blond vorstelle, oder wenigstens hellbraun. Ich habe nie blonde Männer geliebt, immer nur die dunklen, die mich verführten. Aber jetzt. Hirse. Weizen. Rechts von mir eine Frau mit einem türkisfarbenen Kopftuch. Dazu eine weiße, weite Bluse mit langem Arm und perfekt sitzende Armani-Jeans. Modische, hochhackige Sandaletten mit Strass. Gucci, lese ich auf ihrer winzigen Tasche, die sie sich unter die Achsel geklemmt hat. Den Busen, sagte eine Referentin, die mich durch eine Ausstellung zur Geschichte der Frau geführt hatte, können sich die Musliminnen sparen. Umso mehr schnitzeln sie an ihren Augen herum. Der Mann an ihrer Seite ist frei. Er unterscheidet sich durch keine Kopfbedeckung vom Rest der Männer. Nein, sage ich mir, diese Frauen sind stolz. Es ist ein Irrtum, etwas anderes zu behaupten. Ich wäre gern so frei, mich nur für einen Sommer lang von diesen utopischen Trägerhemdchen zu trennen. Aber das Diktat gilt überall. In diesen grellen, unterirdischen Gängen verfolgt uns die Reklame noch aggressiver als oben an der Luft. Ein tiefes, dunkles Grollen. Ich halte den Atem an, rieche ihn für Sekunden nicht mehr. Es gilt, wie immer, dem Sog, der mich über die gelbe Linie ziehen will, zu widerstehen. Ein lautes Quietschen der Bremsen. Wind, der uns Wartenden aus dem dunklen Schacht entgegenbläst. Die Bahn, an die wir uns alle drängen, wirft zuerst ihre Angekommenen aus, bevor sie uns Abreisenden einlässt. Ich lasse ihm den Vortritt, aber gleich hinter der Tür stellt er sich zur Seite und nimmt im Stehen seinen Platz ein. Schnell. Ich muss mich beeilen, wenn ich in seiner Nähe sitzen möchte. Denn nur im Sitzen werde ich mir sein Gesicht vornehmen. Ingwer. Thymian. Als Frau schlägt man die Beine übereinander, damit der Mann gegenüber genügend Platz hat. Auch verschränkt man die Arme, um einer übergewichtigen Mutter mit einem Kind im Schoß mehr Raum zu geben. Gesichter, die an mir vorbei ins Leere starren oder sich an Telefone pressen, wechseln schneller, als ich schauen kann. Dazwischen suche ich ihn. Seine Füße. Den Stock. Die Tür schließt. Ich schließe die Augen und öffne sie. Wandere über seine Knie und Schenkel hinauf, während die Bahn uns fort trägt, hinein in den Tunnel. Weiter. Sein Schoß liegt auf meiner Augenhöhe. Ein brauner Ledergürtel mit Silberschnalle. Jetzt will ich seine Hand wieder sehen. Was sie macht.
Kettenbrückengasse, sagt die Männerstimme, die in ganz Wien dieselbe bleibt. Ausstieg rechts.

Der Mann, für den ich meine Beine übereinander geschlagen habe, trägt eine altmodische Brille und schwitzt. In seinem an die Brust gepressten Rucksack wühlt er sich zu irgendetwas durch. Hinter meiner Brille weiß ich, dass er mich kurz beobachtet, bevor er einen Plastikbehälter, der die Form und Farbe einer Banane hat, herauszieht. Er öffnet das Ding und hält in seiner Hand jetzt eine echte Banane. Die Perfektion mancher Menschen, sagen meine Töchter, bringe sie zur Weißglut. Ich muss mir den Anblick, wie der Mann in die Banane beißt, nicht geben.

Anne Marie Pircher erzählt, was sie sieht, erzählt, was sie weiß, erzählt, was gewesen ist und was sein könnte. Dabei beobachtet sie voller Hingabe und Sorgfalt die Menschen, die sich nur unzureichend in ihrer Welt zurechtfinden, deren Leben und Erleben ihre Gegenwart zu einer Herausforderung, zu einer großen Aufgabe werden lässt, die darin besteht, den Zeichen der Sprache, den Zeichen der Welt eine Bedeutung zu geben.
Eva Maria Stöckler, Literaturhaus Wien

Das weiße Hemd mit grünen Knöpfen. Wenn er an der Kettenbrückengasse aussteigt, folge ich ihm. Wenn nicht, erlaube ich mir sein Gesicht. Er bleibt und wir fahren weiter. Ich sehe seine Hand mit dem Ring nicht mehr. Jetzt, sage ich mir, aber mein Blick geht reflexartig zurück zum Bananenfresser. Solche Menschen putzen sich nachher mit dem Taschentuch sorgfältig die Hände. Die Bananenschale kommt zurück in den Bananenbehälter.

Jetzt! denke ich noch einmal und ziele direkt in sein Gesicht. Blaubeerkuchen. Schlagobers. Pfirsichsorbet. Ich muss mir Einbildungen schaffen, weil er zu weit weg steht. Aber mit seinem Gesicht gelingt mir vieles. Viel mehr als erwartet. Seine Hand ist nicht dort, sondern in seinem Nacken. Der Silberfinger kreist um eine dunkelblonde Locke. Schöner kann man sich einen Menschen nicht vorstellen. Er hört nicht auf, wie ein Kind den Finger um sein Haar zu kreisen, auch wenn jeder hier ihn anstarren könnte.

Pilgramgasse. Umsteigen zu den Linien 12A, 13A, 14A.

Der Lautsprecher befindet sich über seinem Kopf. Seine Augen. Hinein in dieses blasse Blau, das durch mich und alles hindurchgeht. Außer mir hat ihn vielleicht niemand im Visier. Mobile Menschen haben anderes im Kopf. Das Kind auf der dicken Mutter starrt ununterbrochen in meine dunkle Sonnenbrille.

Der Finger hört auf zu kreisen. Die Hand streicht jetzt übers Nackenhaar. Im gleichen langsamen Rhythmus wie vorher der Finger um die Locke. Zehnmal, fünfzehnmal, dann höre ich auf zu zählen. Während er sich streichelt, schaut er mit offenen Augen in die Dunkelheit und lächelt. Jemand, der eine schöne Landschaft beobachtet. Sonnenblumenhaine.

Aussteigen an der Pilgramgasse. Wenn er jetzt geht, werde ich den Bananenfresser erst recht hassen. Doch nur die Mutter mit dem Kind verlässt mich und ich kann meine Arme öffnen wie ich will. Eine junge, schlanke Frau mit einem Handy am Ohr setzt sich neben mich und gibt mir das Gefühl, unbedeutend zu sein. Ich muss mir anhören, wie sie ihr neues Badezimmer eingerichtet hat, obwohl es mich nicht interessiert.

Leise erzählt, sorgfältig gearbeitet. Der neue Erzählband von Anne Marie Pircher lebt von den kleinen Dingen.
Georg Mair, ff

Auf seinem Haar geht das Streicheln weiter. In der Vorstellung kann ich mit ihm nicht Schritt halten. Zu viele Bilder, die mich ablenken. Die Kaiserappartements werde ich mir mit Sicherheit nicht ansehen. Aber Van Gogh in der Albertina. Allein dafür lohnt es sich, im heißesten Sommer in diese Stadt zu kommen. Fahren Sie nicht Fiaker. Take a car. Auch der goldblonde Engel von Frey Wille. All das bleibt ihm erspart. Schicken Sie Ihre Ohren auf Entdeckungsreise. Im Klangmuseum werde ich alle Augen schließen und mich daran erinnern, wie zwei aneinander angeseilte plakative Ohren einen Gletscher bezwingen.
Er muss nur das Haar aus seinen Schläfen kraulen, um in der Dunkelheit noch immer zu lächeln. Zwischendurch fallen seine blauen Augen zu, wenn etwas in seiner Nacht intensiver wird. Astor Piazzolla. Close your eyes and listen. Oder Zucchero. Così celeste, she’s my baby. Meine Töchter springen auf die Barrikaden, wenn ich seine Musik aufdrehe. Voriges Jahrhundert! sagen sie, und mir wird klar, dass meine Geschichte zu den Akten gehört. Aber diese Hand, die jetzt über die schmale Nase fährt. Immer wieder. Er muss sich berühren, um das schwarze Chaos zu meistern. Ich muss ihn ansehen, um alle Bilder zu vergessen und diesen einen Grund meiner Reise zu verstehen.

Margaretengürtel. Umsteigen zu den Linien 6 und 18. Ausstieg links.

Die Maultasch hat mit diesem Namen, den der 5. Bezirk trägt, nichts zu tun. Solche Dinge lese ich, wenn ich nicht mehr weiter weiß.

Seine Hand lässt sich durch keine Station stoppen. Die Nase muss jetzt, wie sein Haar, bis ins Unendliche erspürt werden. Nur im Rausch des Aus- und Einstiegs hält er kurz inne, senkt den Kopf, Daumen und Zeigefinger still an der Nasenwurzel.
Und lächelt.

Der Bananenfresser wirft mir einen letzten Blick zu, bevor er mich verlässt. Ich öffne meine Beine und nehme mir vor, mich durch niemanden mehr einschüchtern zu lassen. Doch der Farbige, der sich an seine Stelle setzt, lässt mir keine Wahl. Seine Beine sind zu lang, um meinen auszuweichen. Es liegt wie immer an mir, die Situation zu meistern. Weil er schwarz ist, muss ich mich zügeln, ihn zu lange anzusehen. Die Frau neben mir klebt immer noch an ihrem Mobiltelefon. Ich weiß jetzt nicht nur, wie ihr Badezimmer aussieht, sondern kenne auch die Farbe ihres Sofas und das Muster ihrer neuen Vorhänge. Der himbeerrote Lack an ihren Zehennägeln müsste erneuert werden. Aber dafür bräuchte diese Frau Zeit.

Wenn ich mir seine Dunkelheit vorstellen will, hilft es nicht, die Augen zu schließen. Besser ist es, ich tauche in sein Gesicht und folge mit meinem Blick der Linie, die seine Hand zeichnet.

Längenfeldgasse. Umsteigen zu den Linien U6 und 12A.

Ich habe keine Angst mehr. Eine Ausstiegsmöglichkeit ist bedeutungslos gegen eine Hand, die ein Gesicht streichelt. Er spürt mich. Seit seine Hand den Mund berührt hat, weiß ich das. Das Parfüm meiner Sitznachbarin, die ich mir ohne Telefon am Ohr gar nicht vorstellen kann, bereitet mir Schwierigkeiten. Ich bräuchte meine Nase für diesen Mund, der für mich gestreichelt wird. Rhabarber. Klatschmohn. Wir werden noch lange nicht fertig sein. Wenn diese Einheiten aufhören, wird seine Hand mit dem Silberring an einer anderen Stelle fortfahren. Vielleicht am Ohr. Aber auch das Kinn könnte ich mir vorstellen. Darin liegt eine Mulde, ein kleines Loch, um das sein Finger kreisen könnte. Ich fixiere ihn. Auf die Gesichter, die um uns wechseln, gehe ich nicht mehr ein. Selbst den Schwarzen mit den langen Beinen vergesse ich, weil er sich hinter einer Zeitung verschanzt hat.
Manche Lippen sind schmal und trotzdem schwungvoll. Dieses Glück kenne ich seit kurzem. Ich werde nicht an der Station Schönbrunn aussteigen, sondern diesen Lippen folgen.

Meidling Hauptstraße. Umsteigen zu den Linien 9A, 10A, 15A, 63A. Ausstieg links.

Mir fehlt das Lächeln, wenn sein Mund von der Hand belagert ist. Andererseits will ich auf nichts mehr verzichten. Seine Ausdauer ist sagenhaft. Seit elf Minuten immer der gleiche Rhythmus, die gleiche Intensität. Das wäre ein Werbeplakat wert. Lernen Sie, sich blind zu vertrauen!

Anne Marie Pircher, 1964 geboren, aufgewachsen in Schenna/Südtirol, lebt in Kuens bei Meran. Seit dem Jahr 2000 schreibt sie Lyrik, Erzählungen und Theaterstücke. 2002 wurde sie zum österreichischen Literaturwettbewerb „Floriana“ eingeladen. Zuletzt erschienen: Kopfüber an einem Baum (Erzählungen 2003), Rosenquarz (Erzählungen 2007) www.annemariepircher.eu

Jetzt! Die Hand kehrt zum Stock zurück. Seine wässrig-blauen Augen aber bleiben bei mir. In Meidling habe ich nichts verloren. An allen Gesichtern hinweg möchte ich ihm das leise zurufen. Ein Mensch, der nicht sehen kann, hört vielleicht umso mehr. Mach weiter, flüstere ich, aber die Geräusche, die uns trennen, verschlucken auch mich. Erst als die Frau neben mir, in alle Ewigkeit telefonierend, aufsteht, wird mir klar, dass ich die Kücheneinrichtung verpasst habe. Ich höre noch das Wort Corianplatte, bevor ihre Himbeerfüße aus meinem Blickfeld verschwinden. Der Duft, den sie mir hinterlässt, kann von keinem Mann überboten werden. Auch nicht, wenn der Sommer ihm zusetzt und aus allen Poren schlägt. Es gibt kein Mittel gegen diese Form der Aggressivität von Frauen. Meine Töchter würden sich wundern, wenn ich mit solchen Argumenten in ihr Jahrhundert vorstieße.

Meidling ist nicht sein Ort. Er hat nur eine Pause eingelegt. Dass er jetzt, wo seine Hand ruht, durch mich hindurchlächelt, kann ich verstehen. Er hat auf dieser Fahrt mehr erreicht als vielleicht an anderen Tagen. Diese Einbildung kann ich mir erlauben, denn ich werde nie einen Beweis erbringen müssen. Für diese Freiheit lohnt es sich, in die großen Städte zu fahren. Wo sonst könnte man unbeirrt untertauchen, wenn einem das Wasser bis zum Hals steht. Der Farbige blickt kein einziges Mal aus seiner Zeitung auf. Aufwachen mit Obama, lese ich unter den Schlagzeilen auf der ersten Seite und weiche mit meinen Beinen noch weiter zurück. Ich will diesen Mensch nicht stören. Mag sein, dass ein einziger Mann die Welt aus den Angeln hebt. Für diese Perspektive lohnt es sich sicher, eine Weile zu träumen.

Ich aber sollte endlich lächeln, bevor es zu spät ist und sich seine Geduld nach so vielen Fingerübungen erschöpft. Wenn eine dunkle Brille meine Augen verbirgt, fällt ein Lächeln nicht schwer. Schließe ich dann noch die Lider, gelingt es wie von selbst. Man kann sich vor niemandem blamieren, wenn die Welt rundherum in Dunkelheit zerfällt. Ich weiß jetzt nicht mehr, wo seine Hand sich befindet. Vor zwei Sekunden lag sie noch auf seinem Stock. Ich denke dabei nur an die mit dem Silberring. Seine zweite Hand spielt für mich keine Rolle. Sie wird den Stock halten, wenn es nötig sein wird.

In diesen Erzählungen gelingt es der Autorin, außerordentlich plastische Lebensbilder zu gestalten. Mit ihrem genauen Blick auf innere und äußere Seelenzustände der Menschen und Figuren entwirft sie zudem auch Modelle einer ihr eigenen Weltsicht. Es geht ihr dabei auch immer um das scheinbar Alltägliche und um die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen.
Ferruccio Delle Cave, Dolomiten

Mein Kinn kennt keine Mulde. Aber mein Lächeln zaubert mir in beide Wangen zwei Grübchen, die ich mit Daumen und Mittelfinger ertaste. Auch ich kann kreisen, wenn die Bilder um mich erlöschen. Summerred. Pink Lady. Jonagold. Wer hätte das gedacht. Mitten in Wien lerne ich die Ausdauer. Fuji. Morgenduft. Idared. Zwischen Nase und Mund liegt eine Querfalte, die meinem Finger die Richtung zeigt. Wir werden noch weit miteinander gehen, wenn ich verlerne, die Augen zu öffnen. Meine Nüstern saugen den Geruch ein, den ich mir an allen Ecken und Enden dieser Stadt geholt habe. Darunter, weiß ich, liegt meine eigene Note, zu der ich vordringen will. Die Dunkelheit ist heller als die Realität. Hier erstehen mir aus dem Nichts Farben, die mich nirgendwo, auch nicht in der Bandbreite des Südens, erreicht haben. Wenn ich seinen Silberfinger noch dazulege und wir zusammen um meine Lippen segeln, erreiche ich eine Intensität, die durch kein Geräusch zu überbieten ist.

Schönbrunn. Umsteigen zur Linie 10A. Ausstieg rechts.

Wir müssen Wiens Männerstimme nicht folgen. Die Aussicht von der Gloriette bietet keine Alternative zu unserem Vorhaben. Probieren Sie eine Gesichtsmassage! Ihr Teint wird sich um Tage verjüngen. Sein Finger gleitet über meinen Nasenrücken aufwärts. Wahrscheinlich verlässt mich jetzt der Schwarze. Ich könnte ihn verstehen. Wenn die rauschende Fahrt in eine Station mündet, wird die Spannung unerträglich. Es ist gut, dass ich mir unter der Brille die Finger auf die Lider drücke und er mir folgt. Damit erlischt in mir endgültig der Drang, mit der Masse zu gehen. Hier, in der Dunkelheit, will ich lernen, was mir diese Stadt abseits vom Kulturknall zu bieten hat. Meine Augäpfel. Red Delicious. Elstar. Gala. Ich kenne alle Namen. Jetzt befällt mich ihr Duft wie ein Ekzem. In solchen Minuten kann man nicht mehr aufhören. Man kreist um sich selbst und findet höchstens den Weg zur Stirn. Diese glatte, hohe Wand kann man mit Mittel- und Ringfinger bis zur Erschöpfung ausloten, während eine unterirdische Bahn ihre Menschen aus- und einlässt. Seine wässrig-blauen Augen werden mir treu bleiben. Davon bin ich überzeugt. Ich brauche es mir nur vorzustellen und schon trifft mich das kühle Metall seines Silberringes an der Schläfe.

Hietzing. Schönbrunner Tiergarten. Umsteigen zu den Linien 10, 51A, 58, 58B, 60.

Ich habe keine Locken. Mein Haar kennt nur eine einzige Richtung. Vielleicht liegt darin mein Fehler. Wage Neues! sagen meine Töchter, wenn ich alte Kochrezepte aufschlage. Paella alla romana. Artischockenmousse. Die Leere nach dieser Station erfüllt uns mit noch mehr Kraft. Immer dem Haar entlang. Bis zur Braunschweiggasse werden wir nicht müde davon. Danach stoßen wir mit unseren Fingern an neue Ufer. Zum Beispiel an ein Ohr oder den Haaransatz im Nacken. Nichts kann uns mehr aufhalten.

Unter St. Veit. Ober St. Veit. Umsteigen zu den Linien.

Der Mann gibt uns keine Orientierung. Unsere Stationen kennen weder Stimme noch Licht. Wir lassen uns nicht mehr beirren. Es muss mehr geben. Zum Beispiel das Glück der Schlüsselbeine. Schneller. Wir müssen fertig sein, bevor es zu Ende geht. Diese Bahn wird später auch uns ausspucken.

Jetzt! sage ich. Die Narbe in der Mitte meines Halses ist der beste Abschluss, den ich mir vorstellen kann. Dort will ich seinen Silberfinger zu Ende führen. Keine Hand hat sich je an diese Stelle gewagt. Aber jetzt, sage ich, bevor es zu spät ist. Gratinierte Rotweinkirschen. Hippenmasse. Unter meinem Halstuch spüren wir lange der Wunde nach.

Hütteldorf. Endstation. Anschluss zu den S-Bahn-Linien sowie zur Linie 53B.

Die Stimme, die in ganz Wien dieselbe bleibt, bringt unsere Hände zum Stillstand. Erschöpft öffne ich die Augen.
Aber da ist nichts als Licht.

Zu den Linien, Erzählungen von Anne Marie Pircher, erschienen in der edition laurin, Innsbruck

Hardcover mit Schutzumschlag, 144 Seiten, € 16,90.-, ISBN 978-3-902866-18-9