Regierungsbildung wird zur Gratwanderung
Die in Italiens verkommener Parteienlandschaft seit Jahrzehnten bewährte Politik der veti incrociati rückt eine Regierungsbildung in weite Ferne. Drei annähernd gleich starke Blöcke stehen sich unversöhnlich gegenüber. Grillos Fünfsterne-Bewegung besteht als stärkste Einzelpartei auf dem Auftrag zur Regierungsbildung und lehnt die Unterstützung jedes anderen Kabinetts kategorisch ab. Silvio Berlusconi fordert eine großen Koalition mit dem Partito Democratico, die für Pier Luigi Bersani einer tödlichen Umarmung gleichkäme. Bersani sucht die Zusammenarbeit mit Grillo, der ihn als "Arschgesicht" ablehnt. Damit sinken dessen Chancen auf einen Auftrag zur Regierungsbildung. Den will Staatspräsident Giorgio Napolitano nur dann erteilen, wenn eine Mehrheit im Parlament sichergestellt ist. In dieser Lage könnte das Staatsoberhaupt dem neuen Senatspräsidenten Piero Grasso einen Erkundungsauftrag erteilen. Italiens Parteien waren stets mehr auf ihre eigenen Interessen bedacht als auf die der Allgemeinheit. Und auch jetzt kocht jeder wieder sein eigenes Süppchen. Die Fünfsterne-Bewegung will die beiden verhaßten Traditionsparteien zur einer Allianz zwingen, um bei künftigen Wahlen erneut zu punkten. Berlusconi stellt eine große Koalition als einzigen Ausweg dar, peilt aber Neuwahlen im Juni an. Bersani will der Fünfsterne-Bewegung mit einem stark erneuerten Kabinett aus angesehenen Persönlichkeiten den Wind aus den Segeln nehmen, nimmt aber auch Neuwahlen in Kauf. Ernüchtert müssen die Italiener zur Kenntnis nehmen, daß es im Parlament eine Mehrheit gibt, die in wenigen Wochen zahlreiche längst fällige Reformen durchziehen könnte – vom Wahlrecht über die Reduzierung der Abgeordneten bis zur Abschaffung der Parteienfinanzierung. Deren Realisierung freilich scheitert an Abgrenzungshysterie und parteipolitischen Barrieren. Im Artikel 67 der italienischen Verfassung steht der schöne Satz: "Ogni membro del parlamento rappresenta la nazione." Vielleicht sollte es besser fazione heißen.