Monstrum Mann
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SALTO: Herr Abbondanza, der Teaser des Stücks beginnt mit dem Satz „Viro ist ein Monster“. Dieses Jahr ging online die große Debatte „Mann oder Bär?“ viral. Wie monströs ist Männlichkeit?
Michele Abbondanza: Beginnen wir damit, dass „monstrum“ auch Schönheit bedeuten kann. In der Tat sagt man oft im Italienischen, wenn etwas unglaublich schön ist: „Es ist monströs“. Das ist nicht negativ, das kann interessant sein, darauf hinzuweisen. „Viro“ ist ein Monster, weil er auch eine wunderbare Kriegsmaschine ist, weil der menschliche, männliche Körper – aber auch der weibliche – eine fast perfekte Maschine ist. Wie ein Kollege sagte, Antonellas Choreografie fehlt nur ein Makel, um perfekt zu sein. Es sind so sorgfältig gestickte Choreografien, dass von den Tänzern eine sehr hohe Konzentration gefordert ist. Die Abfolgen sind fast mathematische Formeln, die besonders in „Viro“ auch die Kälte, die Wiederholungen und die Langeweile im Leben einer bestimmten männlichen Figur widerspiegeln.
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Michele Abbondanza und Antonella Bertoni sind stets als Duo aktiv. Wie war die Rolle Ihrer Kollegin in „Viro“? Was konnte sie zum Thema Männlichkeit beisteuern?
Die Arbeit zur Männlichkeit war sehr interessant. Im Vergleich zu den beiden vorangegangenen Arbeiten handelt es sich um den dritten Teil eines Triptychons, eines dreijährigen Projekts, das vor drei Jahren mit einem Stück begann, in dem Männer und Frauen gemischt wurden. Es hieß „Idem. Io contengo moltitudini“. Wir sind alle gleich, „Idem“ bedeutet ja auch das Gleiche. Vor zwei Jahren hatten wir dann unser Debüt mit „Femina“.
Es ist klar, dass die Künstler dann auch ihr eigenes Umfeld mit einbeziehen, ebenso wie die eigenen ästhetischen Präferenzen. Antonella und ich haben eine lange gemeinsame Geschichte und es war interessant zu sehen, wie sich die Zusammenarbeit verteilte. Antonella hat, verglichen mit anderen Arbeiten die Choreografie, den formalen und externen Teil von „Viro“ in entscheidender Weise, mit viel Schwung und Persönlichkeit übernommen. Wenn einer von uns beiden besonders inspiriert ist, dann lässt man dem Anderen den Raum. Für mich war es interessant, an diesen letzten beiden Werken zu arbeiten, weil mein Beitrag zu einem solchen wurde, der mehr das Ganze berücksichtigten konnte, als aufs einzelne, choreografische Detail achten zu müssen.
Ich weiß nicht, ob ich mich klar ausdrücke, aber Antonella hat die Chorografie bei den letzten beiden Werken fast allein übernommen und ich die Regie. Wir arbeiten schon rund 40 Jahre zusammen, also gab es schon viele berufliche und persönliche Reisen und Projekte, bei denen wir uns schon intensiv mit den Themen Sexualität, Gender und auch Genderfluidität auseinandersetzen konnten.
Apropos genderfluid: Würde es Sie reizen eine Quadrilogie aus der Trilogie zu machen und diese um ein Stück zu erweitern, das sich mit dem befasst, was außerhalb des Binären liegt?
Wir glauben, dass dieser dreijährige Forschungszeitraum abgeschlossen ist. Trotzdem könnte es, in gewisser Weise, auch sehr interessant sein, innerhalb konsolidierter Parameter zu bleiben und gleichzeitig aber auch, ein Bereich an der Grenze, der nuanciert oder sogar heikel ist zu bearbeiten. Indem wir immer alles, was unser Leben ist, in unsere Kunst stecken, würden wir weniger direkt involviert sein. Dennoch fühlen wir uns auch von diesen Problemen, die uns dann und wann kreuzen, angesprochen. Es bräuchte aber eine Recherche, die wohl mehr Zeit als ein Jahr benötigen würde. Wir würden gerne auch die richtigen Leute und authentische Protagonisten bei einem solchen Thema finden. Man weiß nie, man könnte auch selbst in der Situation sein. Meistens finden uns die Themen, anstatt dass wir sie uns auswählen. Am Ende sind die Themen immer die des Lebens, der Geburt, des Todes, des Mysteriums des Jenseits, und auch der Mensch in all seiner Zerbrechlichkeit und seiner Vielzahl von Facetten. Das Thema ist sehr interessant. Man weiß nie, warum nicht?
Apropos Tod, Sie haben „Byetone – Death of the Typographer“ von Olaf Bender als Musik für „Viro“ gewählt. Was hat Sie an diesem Künstler aus Chemnitz gereizt?
Auf den Musiker hat uns unser Freund – und mehr als nur ein Mitarbeiter – Marco Dalpane aufmerksam gemacht. Seine Musik klang genau so, wie wir uns das vorgestellt hatten, auch im Vergleich zur Musikauswahl für „Femina“, dem vorangegangen Werk. In „Femina“ war die Musikalität ebenso rhythmisch, aber primitiver, weniger ausgefeilt und weniger tiefgründig. Es ist fast wie wenn die Arbeit über das Weibliche noch diese besonders schönen, instinktiven Aspekte von Sensibilität hat. Für das Männliche haben wir dagegen eine farbenfrohere, weniger primitive, sogar recht technologische Musik gewählt, die gut zum zeitgenössischen Mann zu passen scheint, der eine Sensibilität hat, die nicht besonders weit in die Tiefe geht. So kamen wir auf das Album „Byetone“, aus dem wir sechs Stücke in voller Länge verwenden, mit all ihrer Rauheit, Verstimmtheit und Repetitivität. Wir glauben, dass das Publikum als aufmerksamer Zuhörer behandelt werden sollte und nicht als zerstreuter und abgelenkter Mensch, der nur ins Theater kommt, um zu lachen. Im Theater sollte man mehr als nur unterhalten werden: Man sollte es in Reflexionen, die für einen selbst, für das eigene Leben wichtig sein können, ausharren.
Apropos Instinkt – das war eine der Eigenschaften, die Sie verwendet haben, um die beiden Musiken zu unterscheiden, zwischen Männlichem und Weiblichem. Gehört der Instinkt für den modernen Mann der Vergangenheit an? Muss man die Männlichkeit neu entdecken?
Das ist ein Diskurs, in dem es meiner Meinung nach mehr als um die Wiederentdeckung der Vergangenheit, um etwas geht, das nicht mehr nur „das“ Männliche, sondern sagen wir, das Menschliche betrifft. Wir Männer, besonders der eine oder andere einer älteren Generation, beobachten diesen Wandel. Ich sehe das bei meinem Sohn, der Anfang 20 ist und auch bei jüngeren Männern, dass ein Gespür für den kritischen Umgang mit Männlichkeit da ist. Der Wind hat sich bereits gedreht und es geht mehr darum, dass wir alle spüren sollten, dass wir jetzt frische Luft atmen. Das ist wichtiger als an das zu denken, was gewesen ist. Manchen macht die Möglichkeit, in einem neuen Geschlecht, das vielleicht noch nicht zu Ende definiert ist, wiedergeboren zu werden, Angst. Dabei sollten wir dafür offen sein. Das Männliche muss ein Teil des Ganzen sein, der genauso wichtig, aber nicht wichtiger ist. Wir teilen uns die Welt mit den Frauen und mit allen anderen möglichen aufkommenden Nuancen, nicht mehr als Protagonist, wie es immer war, sondern zusammen mit den anderen. Wir müssen uns als gleichgestellt und nicht überlegen weder als männliches, noch als menschliches Wesen gegenüber Tieren sehen. Wissen Sie, wir bringen das besser durch unsere Kunst, die Performance zum Ausdruck, als mit Worten.
Am Montag ist der internationale Tag gegen Gewalt an Frauen. Befassen Sie sich auch mit diesem Thema in der Inszenierung oder arbeiten Sie an Alternativen?
Ein Kunstwerk, unabhängig davon, ob es gelungen ist oder nicht, beinhaltet in sich alle Themen und alle Antworten. Sowohl in „Femina“ als auch in „Viro“, der Show, über die wir sprechen, haben wir das Thema präsent. In Wirklichkeit ist es die Aufführung von „Femina“, die mehr künstlerische Nuancen zum Thema Gewalt an Frauen hat, in dem daran erinnert wird, welche Formen von Gewalt Frauen erlitten haben. Das ist zeitgenössisch und absolut im Sinne des Tages. Auch „Viro“ hat Passagen in der Choreografie, in denen es möglich ist, Gewalt zu lesen. Das überlasse ich aber der ästhetischen Freiheit jedes Zuschauers, aber es wird auf subtile Weise die Gewalt des Menschen angeprangert, die nicht nur die der Faust, oder der verbalen und psychischen Gewalt ist, sondern mehr. Die größte Gewalt liegt in Summe in den kleinen, täglichen Gesten. Diese Gesten kommen vor und fließen in die Choreografie ein, die meiner Meinung nach aber auch einen Kontrast zur Gewalt erzeugen möchte.
Sie haben sich auch intensiv mit dem Studium des Zen beschäftigt. Hat das in irgendeiner Weise Ihre Beziehung zur eigenen Männlichkeit beeinflusst?
Ja, sicher, denn Zen ist wie das Reden über das Geschlecht der Engel. Das heißt, Zen ist asexuell, und so hat mir die Philosophie sehr geholfen. Da ich ein Kind der 60er Jahre bin, möchte ich Sie daran erinnern, dass es bis 1975 in Italien noch ein Gesetz gab, laut welchem der Mann das Recht hatte, auch Gewalt gegenüber seinen Kindern und seiner Frau anzuwenden. 1975 wurde das geändert, die beiden Geschlechter ein Stück weit gleich gestellt. Wir sind also unter dieser alten Generation in einer Gewohnheit geboren worden und setzten uns schließlich für Nächstenliebe ein. Wir erlebten auch das Jahr 1968, wenngleich wir da noch jung waren. Zen war bei diesem Wechsel eine große Hilfe und begleitet mich durch viele Jahre hindurch.