Lichtgestalt mit einigen Schatten
Ein Meer aus roten Wimpeln und Fahnen schmückt seit Tagen die Strassen von Istanbul. Hier wird der Nationalfeiertag noch mit viel Aufwand und Pomp begangen, im Gegensatz zu uns in Europa, wo der Patriotismus längst abgeklungen ist. Auf vielen roten Fahnen ist der weisse Halbmond mit dem Sternchen in der Mitte zu sehen, auf anderen ist das Porträt des Staatsgründers Kemal Atatürk sichtbar. Die türkische Verfassung schreibt ihn als unsterblichen Führer und unvergleichlichen Helden der Nation fest. Das erinnert ein wenig an nordkoreanische Lobpreisungen der dortigen Herrscherdynastie. Doch die Genialität, die Weitsicht und die Tatkraft des türkischen Staatsbegründers sind - bis dato - unbestritten und unvergleichlich.
Mustafa Kemal Pascha stammte aus Saloniki, dem heutigen griechischen Thessaloniki. Er besuchte die Kadettenschule, dann die Kriegsakademie, wo er als sehr begabt und reformhungrig eingestuft wurde. 1909 schloss er sich als Armeestabschef der jungtürkischen Revolution an, 1915 ( ein Jahr nach dem Ausbruch des ersten Weltkriegs ) wurde ihm das Kommando über die auf der Halbinsel Gallipoli stationierte 19.Division der 5. Armee übertragen.In dieser Rolle vollbrachte er sein militärisches Glanzstück, das ihm zu Weltruhm verhalf. Er schlug die Alliierten Truppen zurück, die es auf die Eroberung der Dardanellen abgesehen hatten. Infolge dieser Blamage musste Winston Churchill zurücktreten.
Mustafa Kemal wurde als Retter von Istanbul gefeiert und erhielt zum Dank den Titel Pascha . 1919 begann seine politische Karriere als Oppositionsführer, 1920 wurde er - in Personalunion - Minister- und Staatspräsident. Er servierte die amtierenden Sultane und Kalifen ab, lehnte den aufdiktierten Friedensvertrag von Sevres ab und begann mit der Umgestaltung des Staates in eine moderne Demokratie. Der islamische Rechtskodex wurde abgeschafft, ein mitteleuropäisches Rechtssystem trat an dessen Stelle, das Männer und Frauen gleichberechtigt. Das lateinische Alphabet wurde eingeführt, ebenso der gregorianische Kalender, und die traditionelle islamische Kleidung musste einem europäischen Dresscode weichen. Im Jahre 1935 , lange vor Frankreich, Italien und der Schweiz führte Mustafa Kemal Atatürk das Frauenwahlrecht ein.
Atatürk war fasziniert von der Französischen Revolution und von der Aufklärung. Sein Vorbild war Europa mit der dort herrschenden westlichen und säkularisierten Kultur. Sein Motto lautete: Es gibt verschiedene Kulturen, aber nur eine Zivilisation, nämlich die europäische. Er liebte Frauen, er liebte den Tabak und den Alkohol, der ihm zum Verhängnis wurde. Atatürk adoptierte einen Jungen und 12 Mädchen. Eine von ihnen, Sabiha Gökcen, wurde als erste Kampfjetpiloten weltberühmt. Der zweite Istanbuler Grossflughafen ist nach ihr benannt.
Kemal Atatürk starb an einer Leberzirrhose am 10. November 1938. Niemand hatte es bisher gewagt, die Todesursache zu kommentieren - den übermässigen Alkoholkonsum. Erst der heutige Staatspräsident Erdogan sprach aus, was alle wussten: dass Atatürk in den letzten Lebensjahren zum Alkoholiker wurde - er trank zuviel Raki, das türkische Nationalgetränk. Nur ganz langsam kratzt Erdogan am Image des allseits vereehrten Staatsgründers , den er schon bald überflügeln möchte . Nicht als Reformer, sondern als Anführer einer islamischen Gegenreformation möchte Erdogan an die Stelle Atatürks treten.
Für mich persönlich war Atatürk immer ein Idol, ich habe sogar Poster von ihm gekauft. Dann , beim genaueren Studium seiner Biographie , kam die herbe Enttäuschung : der Vater der Türkei hatte Kurdenaufstände blutig niederschlagen lassen. Er soll Giftgas eingesetzt haben, um Kurden aus ihren Höhlen zu vertreiben. Und auch die Kurden, die derzeit wegen ihres Kampfesmutes gegen ISIS geschätzt und unterstützt werden, haben einen schwarzen Fleck in ihrer Jahrhundertgeschichte : sie waren die Handlager der Vertreibung von Millionen von christlichen Armeniern aus der Türkei. Dieser Völkermord fand 1915 statt. Nächstes Jahr soll dieses Genozids weltweit gedacht werden.
Das nennt man Patriotismus: Schüler beim täglichen Absingen der türkischen Nationalhymne.