“Man schaut immer nur zurück”
Unvorbereitet sind wir nicht. Aber in Sachen Naturgefahren und Risikomanagement hat auch Südtirol Aufholbedarf – denn der Klimawandel verändert nicht nur die Wetterlagen, sondern auch das etablierte Risikomanagement. Das sagt Marc Zebisch. Der Klimafolgenforscher leitet das Institut für Erdbeobachtung an der Eurac. Dort gibt es auch eine Forschungsgruppe “Klima und Katastrophenrisiko”, die sich mit den Auswirkungen und Risiken von Naturgefahren in Berggebieten beschäftigt und Anpassungsstrategien entwickelt. Daher weiß Zebisch nicht erst seit den jüngsten Unwettern mit Starkregen und Überflutungen, dass wir uns besser für die Zukunft rüsten müssen.
salto.bz: Herr Zebisch, wie anfällig sind Berggebiete für Unwetter und insbesondere für immer mehr und intensivere Unwetter?
Marc Zebisch: Berggebiete haben, ganz einfach weil sie bergig sind und es viel Relief gibt, ein sehr viel höheres Risiko was die so genannten gravitativen Massenbewegungen anbelangt. Das sind zum Beispiel Muren, Steinschlag, Rutschungen oder Lawinen. Viele von diesen Bewegungen werden durch Wetterextreme ausgelöst.
Konkret durch große Niederschlagsmengen.
Genau. Der Auslöser ist überwiegend Starkregen. Bei den Muren zeigt sich das ganz offensichtlich: Nach Starkregenereignissen kommt es auch in Südtirol regelmäßig zu Murenabgängen. Wenn es lange regnet und der Boden stark übersättigt ist, kommt es irgendwann auch zu flachgründigen Rutschungen. Aber genauso Lawinen können mit Wetterextremen zusammenhängen. Nicht die klassischen Schneebretter, die von Skitourengehern ausgelöst werden, sondern die großen Nassschneelawinen: Wenn es tagelang schneit, steigt die Lawinengefahr, die Häuser und Infrastrukturen bedroht, extrem an.
Für solche Wetterphänomene haben Berge eine besondere Sensitivität – einfach weil das Gelände steil, der Boden nicht überall fest ist und es überall Geröll und Lockermaterial gibt, das bewegt werden kann.
Heftiger Regen oder Schnee sind nicht die einzigen meteorologischen Risiken. Wie sehr gefährden Wind und Hitze Berggebiete?
Andere Extreme wie der Wind stellen eine weniger starke Gefahr für Berggebiete da. Zumindest bedrohen sie weniger Südtirol, sondern eher den Voralpenraum. In Bayern und Baden-Württemberg gab es immer schon schlimme Sturmschäden. Denn das sind Gebiete, an denen der Sturm entlang ziehen kann. Der richtige Sturm dringt typischerweise nicht bis in die Alpen vor – weil zu viele Berge dazwischen liegen.
Hat uns das Sturmtief Vaia vor drei Jahren nicht etwas anderes gelehrt?
So etwas, was wir im Oktober 2018 mit Vaia hatten, war gerade deshalb so überraschend, weil großflächige Sturmereignisse mitten in den Alpen nicht typisch sind. Windböen, bei denen fleckenweise auch Schäden entstanden sind, ja. Aber so großflächig wie Vaia war sehr ungewöhnlich.
Und was ist mit der Hitze?
Hitze trifft die Berge generell erst einmal ein bisschen weniger, weil es in der Höhe kühl ist. Aber Städte wie Bozen oder Meran sind davon durchaus genauso betroffen. Davon abgesehen ist Hitze das offensichtlichste Klimaextrem, das bereits auftritt. Das für mich schockierendste Ereignis war der jüngste Hitzerekord in Kanada, mit Waldbränden und einem abgebrannten Dorf. In Kanada – nicht in Saudi-Arabien! –, wurden fast 50 Grad Celsius gemessen. Das sind fünf Grad mehr als der alte Rekord. Hitze ist von den Naturgefahren, die mit dem Klimawandel zusammenhängen, sicher das deutlichste und vielleicht sogar das mit dem größten Personenschaden. Es wird davon ausgegangen, dass allein bei der großen Hitzewelle 2003 in Europa 50 bis 70.000 Personen gestorben sind. Das war vor Corona in Europa die größte Naturkatastrophe des 21. Jahrhunderts – vermutlich auch des 20. Jahrhunderts. Aber die Auswirkungen der Hitze sieht man nicht so wie die Bilder jetzt aus Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz. Dort sieht man die Zerstörung, die das Hochwasser angerichtet hat. Diese Bilder bleiben hängen. Wenn alte Leute an einem Kreislaufkollaps sterben, erzeugt das nicht solche Katastrophenbilder. Dabei ist das eigentlich fast noch gefährlicher als solche Starkregen- oder Flutereignisse.
Das Manko dieser Gefahrenzonenplanung ist, dass der Klimawandel darin nicht vorkommt
Für Sie steht außer Zweifel, dass die zu beobachtenden und sich häufenden Wetterextreme mit dem Klimawandel zu tun haben bzw. davon verursacht werden?
Da muss man differenzieren. Bei Hitze ist es ganz klar. Ein Ereignis wie in Kanada mit fast 50 Grad wäre ohne Klimawandel definitiv nicht möglich. Bei Wind, Starkregen, Hagel ist es etwas schwieriger zu sagen. Allerdings ist mittlerweile ziemlich klar, dass solche Ereignisse wahrscheinlicher werden und vor allem, dass richtig starke Ereignisse häufiger werden.
Ist diese Tatsache in der breiten Öffentlichkeit angekommen?
Es gibt diese zwei berühmten Phänomene, die jetzt auch überall in den Medien – zum Glück – erläutert werden. Zum einen, dass pro 1 Grad Erwärmung die Luft 7 Prozent mehr Feuchtigkeit aufnehmen kann, die dann auch irgendwo wieder runter muss. Das ist ein ganz einfacher Zusammenhang. Der zweite Zusammenhang, der jetzt immer wieder diskutiert wird, ist die Veränderung des Jetstreams, die Abschwächung der Höhenwinde. Das führt dazu, dass extreme Wetterlagen stabiler werden, länger bleiben und dadurch mehr Schaden anrichten. Das gilt für Hitze genauso wie für Starkregen und Kälte. Diese Tatsache ist wirklich gut belegt.
Führt Starkregen allein unausweichlich zu Überflutungen? Oder spielen andere Faktoren wie Verbauung der Landschaft, Begradigung der Gewässer, Versiegelung mit eine Rolle – weil es immer weniger Platz für immer mehr Wasser zu geben scheint?
Da sprechen Sie ein Thema an, an dem wir auch arbeiten: die Bewertung von Klimarisiken, also die Bedrohung durch Wetterextreme. Ein Risiko entsteht im Prinzip immer durch drei Faktoren: die Gefahr, die Vulnerabilität und die Exposition.
Wie spielen diese drei Faktoren konkret zusammen?
Die Gefahr wäre der Starkregen: Ohne Starkregen gibt es keine Überflutung. Die Vulnerabilität bezieht sich auf die Anfälligkeit und welche Faktoren dazu beitragen. Im Fall von Starkregen ist das zum Beispiel der Versiegelungsgrad: Je mehr der Boden versiegelt ist – durch Verbauung oder Rodung –, desto mehr Wasser fließt sofort ab; je offener der Boden ist, desto mehr kann er an Wasser speichern. Auch die Verdichtung spielt eine Rolle, das hat sich in Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen gezeigt: Wenn Landwirtschaft mit schweren Maschinen betrieben wird, verdichtet sich der Boden und es kann weniger Wasser versickern. Die Exposition ist ein Faktor, der berücksichtigt, was und wie viel es in einem Gebiet überhaupt gibt: Eine gering besiedelte Region, in dem sich wenige Menschen aufhalten, hat ein geringeres Risiko, selbst wenn die Gefahr dieselbe ist.
Diese drei Faktoren – Gefahr, Exposition (wie viel ist dort überhaupt?), Vulnerabilität (welche Faktoren machen das Ganze noch gefährlicher?) – tragen zu einem Klimarisiko bei.
Kann auch Wildbachverbauung das Risiko von Überflutungen steigern?
Es wäre falsch zu sagen, Wildbachverbauung trägt automatisch zur Überflutungsgefahr bei. Diese Eingriffe sollen natürlich zunächst davor schützen. Aber klar, wenn dabei zum Beispiel Retentionsflächen – Flächen, auf denen etwas versickern kann – abgeschafft werden, wenn der Fluss in ein engeres Bett gedrängt wird und links und rechts davon auf einmal Straßen, Parkplätze und Gebäude oder Gewerbezonen entstehen, dann fließt natürlich alles schneller ab. Daran ist aber nicht unbedingt die Wildbachverbauung an sich Schuld, sondern vielmehr die Versiegelung rund um die Fließgewässer.
Im Risikomanagement braucht es grüne Lösungen
Um auf die Klimarisiken zurückzukommen: Südtirol ist ein wenig dicht besiedeltes Berggebiet mit viel Waldfläche – die Bedrohung durch Wetterextreme ist theoretisch also sehr gering?
Da muss man sich wieder anschauen, wo. Prinzipiell mag das so sein. Es ist bekannt, dass in Südtirol nur acht Prozent der Landesfläche besiedelbar sind. Und dass das Risiko so gering ist, hängt damit zusammen, dass die restlichen 92 Prozent nicht deshalb oder nicht nur deshalb nicht besiedelbar sind, weil es da so steil ist, sondern eben auch weil sie Naturgefahren ausgesetzt sind. So definieren sich ja die Dauersiedlungsräume in Südtirol: dass sie weder zu steil, noch zu hoch, noch Naturgefahren ausgesetzt sind. Das heißt, ursprünglich und in der Theorie siedelt man dort, wo die Gefahr gering ist.
Und in der Praxis heute?
Weil man so wenig Platz hat, ist man doch immer wieder gezwungen oder fühlt sich genötigt, in gefährdetere Gebiete hineinzubauen. Das betrifft zum Teil auch Gewerbezonen, die oft dort hinkommen, wo früher niemand gesiedelt hat – aus gutem Grund.
Wie gerüstet ist Südtirol für Klimarisiken?
Ein Tool in Sachen Risikomanagement, das es in Südtirol gibt – im Gegensatz zum Beispiel zu Rheinland Pfalz etwa –, sind die Gefahrenzonenpläne. Die liegen aktuell für 60 von 116 Gemeinden vor, aber laut Gesetz müssen alle einen ausarbeiten. Diese Pläne dienen der Risikoprävention. Darin werden rote Zonen ausgewiesen, die durch irgendeine Gefahr – Lawinen, Rutschungen, Muren, Wasser – gefährdet sind und entsprechend nicht bebaut werden dürfen.
Mittlerweile ist ziemlich klar, dass Wetterextreme wahrscheinlicher werden und vor allem, dass richtig starke Ereignisse häufiger werden
Sie haben die Antwort auf die nächste Frage etwas vorweggenommen: Gibt es Unterschiede im Risikomanagement in verschiedenen Ländern und Bergregionen?
Absolut. Eines der Vorbilder in den Berggebieten ist stets die Schweiz. Südtirol hat sich mit der Gefahrenzonenplanung auch an der Schweiz orientiert. Das ist prinzipiell schon mal gut.
Aber?
Aus meiner Sicht ist das Manko dieser Gefahrenzonenplanung, dass der Klimawandel darin nicht vorkommt. Die Gefahrenzonenplanung wird normalerweise mit Blick in die Vergangenheit erstellt: Man schaut sich die historischen Ereignisse an, schaut, wo öfter Lawinen oder Muren abgehen. Und dann fließen ingenieurstechnische Verfahren mit ein – Modellierungen, Geländebegehungen –, um gefährdete Zonen auszuweisen. Das ist alles gut und die Schweiz macht es nicht anders. Aber man schaut halt immer nur zurück. Das führt dazu, dass die Ausweisung von gefährdeten Flächen vielleicht auf einer Annahme beruht, die bis vor 20 Jahren noch richtig war, aber inzwischen überholt ist. Wenn man zum Beispiel davon ausgeht, dass ein Ereignis im Durchschnitt alle 50 Jahre auftritt, kann es aufgrund des Klimawandels sein, dass es inzwischen schon ein 25-jähriges Ereignis ist. Diese Trends, die es ja schon gibt, werden in der aktuellen Gefahrenzonenplanung nicht berücksichtigt.
Warum nicht?
Das gilt für ganz Europa und eigentlich die ganze Welt: Im Grunde genommen gibt es ein sehr gut etabliertes Risikomanagement-System für Naturgefahren und das in Südtirol würde ich sagen ist auf einem hohen Stand. Aber gerade weil es so etabliert ist, ist es auch ein bisschen behäbig. Es folgt bestimmten Standards und berücksichtigt den Klimawandel so gut wie nirgendwo. Es gibt keine Vorschriften oder Normen, in denen der Klimawandel bei der Gefahrenzonenplanung oder bei dem Risikomanagement schon enthalten sind. Das wäre eine Aufgabe für die Zukunft.
Weil in Südtirol so wenig besiedelbarer Raum ist, ist man doch immer wieder gezwungen oder fühlt sich genötigt, in gefährdetere Gebiete hineinzubauen
Ein Risikomanagement, das auf die Bewertung von und den Schutz vor Naturgefahren ausgerichtet ist, kollidiert unweigerlich mit anderen, gegensätzlichen Interessenlagen. Etwa mit dem Erhalt von Biodiversität und Lebensräumen oder der effizienten Nutzung von Raum und Wasser. Kann hier ein Ausgleich gefunden werden oder führt kein Weg an der Gefahrenvorsorge als oberste Priorität vorbei?
Sie haben recht. Auch da muss man noch dazulernen. Es gibt zum Beispiel bereits eine Abteilung der Vereinten Nationen, die sich mit Risikomanagement beschäftigt und weltweit Strategien vorgibt, die UNDRR. Diese “Disaster Risk Reduction”-Einheit ist ähnlich dem IPCC, dem Weltklimarat. Und was die Paris Declaration für den Klimaschutz ist, ist das Sendai-Framework for Disaster Risk Reduction für das Risikomanagement. Die Strategie, die die jetzt als neue Strategie empfehlen, geht viel mehr in die Richtung, die Sie erwähnt haben. Als Grundparadigma spricht man schon einmal nicht davon, Katastrophen zu managen, sondern das Risiko. Das heißt, nicht nur vorbereitet sein, falls es zur Katastrophe kommt, sondern das Risiko überhaupt erst einmal mindern, etwa Versiegelung stoppen.
Zum Stichwort Biodiversität: Ein weiterer Punkt, der in den letzten Jahren aufgekommen ist, sind die so genannten “nature-based solutions”, naturbasierte Lösungen. Die Empfehlung lautet – und das fordern nicht nur Naturschützer, sondern auch auf Ebene der Vereinten Nationen arbeitet man daran –, grünen Lösungen immer den Vorzug zu geben oder sie zumindest mitzudenken. Bei Hochwasser zum Beispiel spielt das schon eine große Rolle.
Inwiefern?
Je mehr Platz ein Fluss, je mehr Puffer ein Ökosystem hat – zum Beispiel Moore, Feuchtwiesen –, umso weniger muss man im Fall von Starkregen überhaupt managen. Die Überlegung dahinter: Die Gefahr selber, den Starkregen können wir nicht reduzieren – da würde Klimaschutz helfen, aber der greift auch nicht sofort –, deshalb müssen wir die Vulnerabilität und die Exposition verringern. Denn das geht auch technisch, wie über die Wildbachverbauung. Aber wir müssen es eben auch machen, indem wir auf grüne Lösungen setzen.
Es ist wie beim Klimaschutz: Alle sind gefragt und jeder hat seinen Teil dazu beizutragen
Reicht das alleine, um künftige Risiken bzw. Wetterextreme besser zu bewältigen?
Nein. Ein ganz wichtiger Punkt ist die gesamte Risikowahrnehmung. In Deutschland hat das zum Beispiel überhaupt nicht funktioniert. Die Leute waren Null darauf vorbereitet, sie wussten gar nicht, ob es Gefahren in ihren Regionen gibt oder wie man in dem Fall einer Gefahr reagiert. In Japan führt jede Schule regelmäßig Tsunami-Übungen durch. Solche Schulungen braucht es auch bei uns. Und der Trend geht bereits stark in die Richtung, dass man sagt, die Bevölkerung muss mehr eingebunden werden und erst einmal wissen, welchen Gefahren sie ausgesetzt ist. Man muss dieses Risikobewusstsein wieder mehr in die Bevölkerung tragen, um wieder mehr Eigenverantwortung herzustellen. Wir bei der Eurac haben zum Beispiel Projekte mit der Agentur für Bevölkerungsschutz laufen, zur Risikowahrnehmung und wie man die verbessert.
Zusammengefasst würde ich sagen, das klassische Risikomanagement ist gut etabliert, hat aber seine Grenzen. Es berücksichtigt zu wenig die grünen Lösungen, zu wenig den Klimawandel, zu wenig die Risikowahrnehmung und ist insofern zu starr. Da gibt es noch einiges zu tun, auch in Südtirol.
So wie beim Klimaschutz greift also auch beim Schutz vor Naturgefahren der Appell an die politischen Entscheidungsträger alleine zu kurz. Wer ist gefragt, um das Risiko von Wetterphänomenen und zunehmend extremeren Wetterphänomenen für die Menschen zu minimieren?
Es ist wie beim Klimaschutz. Alle sind gefragt und jeder hat seinen Teil dazu beizutragen: Staaten, Länder, Regionen, Gemeinden. Auf Gemeindeebene ist es entscheidend, den Klimawandel und die Naturkatastrophen immer mitzudenken. Bei jeder raumplanerischen Entscheidung müssen die Auswirkungen bedacht werden, die weitere Versiegelungen haben. Und letztendlich kann jeder Einzelne etwas beitragen. Zum einen, indem man sich der Gefahren bewusst ist – ganz banale Dinge, wie Wertgegenstände und wichtige Dokumente nicht im Keller lagern. Zum anderen, indem man selbst in seinem Einflussbereich nicht alles versiegelt, sondern möglichst unversiegelte Flächen schafft. Das gilt genauso für Unternehmen: Jedes kann sich für ein grünes Dach oder Kies als Parkplatzbelag entscheiden. Es gibt auch bei Klimaanpassung oder Schutz vor Naturgefahren immer etwas, was der Einzelne beitragen kann.