Stage | Poetry Slam LM 2024

Das Faultier und der Zappelphilipp

Abermals 17 Texte und ein großes Fest feierte man bei Vorrunde 2 der LM 2024 im Poetry Slam. Acht Poet:innen ritterten um einen der drei Finalplätze. Besonders stark: Außer Konkurrenz trat Impro-Slam-Meister Antonio Amadeus Pinnetti auf.
Nathan Laimer, Nathan der Nice, LM 24 VR 2, Poetry Slam
Foto: SALTO
  • Die Landesmeister:innenschaft sollte den Slammerinnen und Slammern im Land ein Fest sein, ebenso wie das erste Mal Slam auf einer neuen Bühne gefeiert gehört. Durch die Selbstschließung des Ost West Clubs in den letzten beiden Wochen fiel beides zusammen. Klar, dass man da am üppigen Modus der Brixner Vorrunde festhält. Der Abend läuft jedoch glatter, mit weniger Unterbrechungen und einem mit dem Format Slam vertrauterem Publikum. Auch  beginnt man früher. 

    Lorenz Masé, mit Loopstation und E-Geige bewaffnet, ist an diesem Abend der überqualifizierte Jingle-Musiker und darf Spannungsmusik und, zum Ende des Abends, eine gemeinsame Improvisation mit Italiens erstem Meister im Impro-Slam machen. Als sogenannter Featuring Poet wird Antonio Amadeus Pinnetti von Moderatorin Lene Morgenstern nur außer Konkurrenz auf die Bühne gelassen. Nachdem er auf die Frage, wovon ein Gedicht handeln solle, Stichworte eingesammelt hatte, gab es für Pinnetti kein Halten mehr und im Maschinengewehrtempo ging es um „amore“, „natura“, „guerra e pace“, „ultras“, „equilibrio“ und „verde“. Vielleicht auch, weil er die auf italienischen Slam Abenden üblicheren drei Minuten Zeitlimit, statt der vor Ort geltenden fünf Minuten mit 15 Sekunden Toleranz gewöhnt war, startete er den Abend rasant auf Position Null mit einer (fast) perfekten Wertung. 10 plus 10 plus 10 plus 10 plus 9,6 ergibt 30, da wie beim Eiskunstlauf die höchste und tiefste Wertung gestrichen wird.

  • Zu den Regeln des Slams

    Poetry Slam - oft als „Wettlesen um die Gunst des Publikums“ beschrieben - ist ein Bühnenformat, bei welchem die Teilnehmer:innen mit selbstgeschriebenen Texten auf die Bühne gehen und diese binnen eines Zeitlimits vortragen. Gesungen darf nur auszugsweise werden, Kostüme sind keine erlaubt.

    Bei der Landesmeister:innenschaft ist das Limit des Vortrags fünf Minuten in denen es durch Text und Vortrag eine zufällig aus dem Publikum ausgewählte, fünfköpfige Punktjury zu überzeugen gilt, welche, inklusive einer Kommastelle, von 1 bis 10 Punktwertungen vergeben. Analog zum Eiskunstlauf werden Höchst- und Tiefstnote traditionell gestrichen. Es gewinnt wer am Abend, die meisten Punkte in Runde 1 und 2 summiert erhalten hat.

  • Auf in den Wettkampf

    Antonio Amadeus Pinnetti: Schaffte dichte Auftritte, in denen sogar thematisch kongruente Themensprünge von Dantes Divina Comedia hin zu Anime-Serien möglich wurden. Foto: SALTO

    Von den acht Starter:innen im Feld setzte das Los Helga Stockreiter auf Startplatz Eins, die Seniorin hat ein gemächlicheres Tempo im Plaudern mit dem Publikum. Angesichts (Para-)Olympiade und Präsidentschaftswahlen sollte es Stockreiter um Gewinner und Verlierer gehen, samt Vorschlag an die MC: „Lene, wie wars mit Medaillen für insere Slammer?“

    Ebenfalls in einem anderen Tempo als Schnellfeuer, zeigte Leander Lezameta Interesse, der dem Publikum mitteilte, dass das Faultier im Klima-Aktivismus sein „Spirit Animal“ sei. Dieses lebt ein schönes Leben - jeden Montag kommt der Tiger zum Tee - bis die Menschen Kohle unter seinem Wald finden. Für die leistungsorientierte Gesellschaft ist das Faultier „wertlos, da arbeitslos“ und es bleibt ihm für Runde 1 angesichts des Tagebaus nur die traurige Rückschau auf einen verschwundenen Wald.

    Frau S. brachte einen koketten Text von „Susis“ erstem Blinddate mit. Während Klaus anfänglich mit Aufmerksamkeit und Komplimenten Punkte sammelt, gibt es an der Wohnungstür fürs Mit-Hoch-Kommen eine Abfuhr: Küssen kann Klaus nicht, davon ist Susi überzeugt. Ob Susi selbst küssen kann, stellt der Text am Ende als Frage in den Raum, die offen bleibt.

    Von der vierten Startposition nahm uns Lena Haller mit in ihren „Sommer in Chicago“, den sie aus warmen Sommernächten von ebendort importiert hatte. Barfuss und planlos ist Wachliegen ein eigenes Gefühl in der windigen Stadt, das Haller lyrisch über den großen Teich wehen lässt. Ein wenig Amerikanischer Traum schwingt da bei Sonnenaufgang mit, an einem Ort wo „alles möglich ist“, man aber zugleich „zu nichts verpflichtet ist“.

  • Filomena Hunglinger: Konzentriert sich auf den Rhythmus ihrer Texte ebenso, wie auf deren Inhalt; bei ihr darf auf der Bühne nichts ins Stocken kommen. Foto: SALTO
  • Filomena Hunglinger folgt mit einem Text, der sie in die vier Elemente aufteilt. Luft, Erde, Feuer und Wasser möchte sie sein, sie wiederholt ihren Text dreimal, mal als Gedicht, mal als rhythmisierten Sprechgesang und schließlich noch einmal als Song, der mit starken Binnenreimen und Form auch bei der zweiten Rückkehr zum Refrain eingängig ist. Genretechnisch beim Gesang  von Hunglinger herauszuhören sind Anleihen aus Reggae und Soul, auf einer Hiphop Basis aufbauend, womit der Sound des Clubs getroffen wäre.

    Vom 19-Sein will Nathan der Nice schreiben, doch dabei steht ihm der eigene Kopf im Weg. Aktiv würde er werden wollen, um nicht mehr „zu Lasten anderer zu leben“. Negative Gedankenspiralen durchbricht er dabei im Vortrag immer wieder mit einem dazwischengerufenen „Cut!“, das ihn Punkte der Reue nur einordnen lässt. Einfach macht das das 19-Sein auch nicht und so braucht Nathan der Nice seine Bühnenzeit bis zur allerletzten Sekunde auf.

    Manuel Gatterer brachte seinem Publikum drei kurze „Wohlfühl-Gedichte“ mit, in denen er für Seelenlandschaften Entsprechungen in der Natur suchte. Die drei Gedichte - eines davon in doppelter Sprachausgabe - sollten auch die einzigen wirklich zweisprachigen Texte des Abends in Meran sein. Gatterer endete schließlich am See, wo ein Walnussschiffchen aufs Wasser trifft und Kreise schlägt: „Auch ich möchte wachsen.“

    Von den Tücken von Open Air Konzerten wusste - last but not least - Michaela Grüner zu berichten. Sie schreibe zwar gern in Reimen, habe sich auf den Text voller Ungereimtheiten aber keinen Reim machen können. Ob man nun an den falschen Stellen klatscht oder eine besserwisserische Begleitung neben einem sitzt, wenn der Traktor dann zur „Berliner Luft Luft Luft“ seine Gülle ausbringt, dann ist das das best- und schlechtestmögliche Timing zugleich.

  • Für immer oder sowas

    Michaela Grüner: Bleibt in ihren Auftritten eher unaufgeregt, außer wenn sie sich über doofe T-Shirt-Sprüche aufregt. Foto: SALTO

    Die besten sechs von acht sollten in Runde 2 noch einmal die Möglichkeit haben, einen Text vorzutragen um sich das Rennen um drei Startplätze beim Finale der Landesmeister:innenschaft im Bozner Stadttheater auszumachen. Auch der Weg dahin soll nicht nur dem Publikum sondern auch den Poetinnen und Poeten ein Fest sein, das leider ohne Helga Stockreiter und Lena Haller nach kurzer Pause weitergehen sollte.

    Runde 2 umrahmen, beziehungsweise umarmen, durfte Featured Poet Antonio Amadeus Pinnetti, der sich bereits in Runde 1 für den Mangel an Deutschkenntnissen entschuldigt hatte und nun erklärte, wie er die vergangenen Auftritte miterlebt habe. Es sei ein wenig gewesen, wie wenn man bei Fernseher den falschen Kanal erwischt habe und nun ein Programm ohne Untertitel sehe, das man nicht versteht. Pinetti blieben Rhythmus, Musikalität und körperliche Expressivität. Entführen wollte er sein Publikum in die „scighera“, den dichten und plötzlich auftretenden Nebel in Mailand. Auch der am Club vorbeifahrende letzte Zug in den Vinschgau und lärmend spielende Kinder, also eigentlich Störelemente von außen, verstand der Impro-Slammer in sein Gedicht vom Abschiednehmen und einer weißen Tram in der die Toten sitzen, als Bausteine zu verwenden.

    Als erster Starter im Hauptfeld von Runde 2 wurde Manuel Gatterer gelost. Es war ihm ein Anliegen, neben den „Wohlfühl-Texten“ das denkbar größte Kontrastthema auf die Bühne zu bringen. Im Beitrag von Gatterer, in dem er den Widerspruch „Vorbildwirkung“ und die Notwendigkeit über Themen wie Psychiatrie, Zwangsmaßnahmen und Suizid zu sprechen aushandelt, verwendet er Rumpelstilzchen als wiederkehrendes Motiv. Heute bäckt er, morgen braut er und übermorgen ist die Psychiatrie hoffentlich gewaltfrei. Am Ende sprach er dem Publikum noch eine Einladung zum Trialogischen Gespräch aus.

    Michaela Grüners Text sollte da leichter verdaulich sein, es ging ihr in ihrer, Zitat, „scheiß Geschichte“ um ein T-Shirt. So eines, erklärt sie, auf dem vorne „together forever“ drauf steht, habe sie auch. Anders als das Pärchen am Bahnsteig, das sich gegenseitig vom T-Shirt vorliest, verwendet es Grüner aber zum Kloputzen. Der Text endet, als ein Mädchen in, das andere aus dem Zug steigt. Beide tragen sie ein „together forever“ T-Shirt.

    Frau S. setzt für ihren Auftritt auf das Thema häusliche Gewalt und toxische Beziehungen. Aus weiblicher Sicht schildert sie, wie Lovebombs zuhause implodieren können und das Leben mit einem Narzissten sich gestaltet. Ohne eine Perspektive, ohne dass der Kreis durchbrochen werden kann, endet der Text eher trostlos.

    Etwas textlich Frisches, vielleicht noch nicht Abgeschlossenes brachte Filomena Hunglinger mit auf die Bühne. Sie vermischte dabei die Erzählung von einem Schreibauftrag und Wasser- sowie Geburtsmotive, macht sich auf den Weg wie ein Bach, der Fluss sein will. Am Ende des Textes steht eine Audionachricht von 5 Minuten 29 auf WhatsApp und eine Absage des (Fast-)Auftrags. Für Slammer:innen stets frustrierend macht Hunglinger aus ihrem Poetis Interruptus das Beste, auch wenn dem Text dadurch ein wirkliches Ende fehlt.

    Stark sollte auch Leander Lezametas „Bis“ sein, für das er die Fortsetzung seines Texts aus Runde 1 mitgebracht hatte. Das Faultier hatte sich in der Zwischenzeit als vorbildlicher Arbeiter in den Tagebau integriert und schiebt 10 Stundenschichten. Da das „Zur-Seite-Schieben“ der Gedanken allerdings auch nicht auf Dauer gut gehen kann und auch der Tee mit Tiger fehlt, geht das Faultier zum Streik und zur Produktivitätsverweigerung über. „Feilt mit mir an den Streben.“, bittet Lezameta sein Publikum, um aus dem Gefängnis der Leistungsgesellschaft auszubrechen.

    Nathan der Nice hatte die nette Aufgabe den letzten im Wettkampf gewerteten Vortrag zu starten und sprach offen und leidenschaftlich von seiner ADHS Diagnose, Vorurteilen und Herausforderungen für Betroffene. Als, Selbstbezeichnung, „neurodivergenter Wichser“, der schneller lernen und mehr fühlen kann, liebt und hasst er es gleichzeitig und ruft eine beeindruckende, allerdings keineswegs deckende Liste an diagnostizierten „Zappelphilipps“ mit Weltruhm und großer Wirkkraft an - von Einstein bis Marie Curie -  was sich auch noch fortsetzen ließe. Frei von Ambivalenz war jedoch die Publikumswertung mit 10 auf allen fünf Tafeln. Das gab es schon lange nicht mehr.

  • Fürs Slamily Familienalbum: Von links nach rechts sind MC Lene Morgenstern, Helga Stockreiter, Leander Lezameta, Michaela Grüner, Frau S., Filomena Hunglinger, Lena Haller, Manuel Gatterer, Abendsieger Nathan der Nice, Featuring Poet Antonio Amadeus Pinnetti aus Mailand, sowie, bewegungsunscharf Musiker Lorenz Masé und Eeva Aichner mit dem Sieger:innen-Basilikum zu sehen. Foto: SALTO
  • Da hatte es nicht mal Antonio Amadeus Pinnetti einfach, anzuknüpfen und so holte er sich fürs letzte Nachrechnen der Veranstalter Verstärkung von Lorenz Masé, mit dem er gemeinsam die Wartezeit überbrückte.

    Neben Titelverteidigerin Hannah Tonner, Lena Simonetti, Olivia Kaufmann und Annalena Kluge (Vorrunde 1 im Tschumpus) qualifizierten sich Nathan der Nice, Filomena Hunglinger und Michaela Grüner im neuen Ost West Club. Am 14. September (20 Uhr) entscheidet sich dann im Bozner Waagkeller, wer die letzten drei Startplätze fürs Finale im Bozner Stadttheater am 5. Oktober (ebenso 20 Uhr) lösen wird. Wir bleiben gespannt.