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„Das ist reine Meinungsmache“

Sonderklasse der Bozner Goetheschule für Kinder ohne Deutschkenntnisse gestoppt: Bildungsdirektor Gustav Tschenett verurteilt die öffentliche Debatte zum Fall und legt Zahlen vor, die das Gegenteil beweisen.
Gustav Tschenett
Foto: Seehauserfoto
  • Die geplante Sonderklasse für Kinder ohne Deutschkenntnisse in der Bozner Grundschule „Johann Wolfgang von Goethe“ ist endgültig gestoppt. Die zuständige Schuldirektion wird die Zusammenstellung der Schulklassen wiederholen müssen – entsprechend dem Grundsatz der Ausgewogenheit, wie es der Beschluss der Landesregierung Nr. 112 im Jahr 2023 vorsieht. 

    Das stellte heute die Landesschuldirektorin Sigrun Falkensteiner in einer kurzfristig anberaumten Pressekonferenz zu Sonderklassen in der Aula der Landesfachschule für Sozialberufe Hannah Arendt in Bozen klar. Damit reagiert die Bildungsdirektion auf die tagelange Diskussion in den Südtiroler Medien um die Sonderklasse der Goetheschule. 

  • Gustav Tschenett: „Es ist also eine ganz normale Situation.“ Foto: Seehauserfoto

    „Es ist gesellschaftspolitisch nicht förderlich, wenn über Kinder wie über Fußball gesprochen wird“, erklärt Bildungsdirektor Gustav Tschenett am Ende der Veranstaltung sichtlich verärgert. Der Untertitel der Pressekonferenz „Fakten versus Meinungen“ dürfte deshalb nicht zufällig gewählt worden sein. „Es ist der Auftrag der Schule, Diskriminierung aufgrund von Sprache oder kultureller Herkunft zu unterbinden, Inklusion und den Respekt vor Vielfalt zu fördern“, sagt Falkensteiner. „Das hat die Landesregierung in Beschlüssen festgelegt.“

    Zudem würden Aussagen über eine Entfremdung in Südtiroler Schulen nicht der Realität entsprechen. „Beispielsweise weisen in den ersten Klassen der Goetheschule rund die Hälfte der Kinder gute oder sehr gute Deutschkenntnissen vor, die andere Hälfte weniger oder kaum Deutschkenntnisse“, so Falkensteiner. Diese Daten werden bei der Anmeldung der Kinder erhoben. „Darauf aufbauend planen wir die Stellen für die Sprachförderung an den Schulen.“ An der Goetheschule sind in diesem Schuljahr 7 Stellen dafür ausgewiesen worden.

    Landeshauptmann Arno Kompatscher und Bildungslandesrat Philipp Achammer signalisieren bei der Pressekonferenz der Landesregierung heute jedenfalls die volle Unterstützung für die deutsche Bildungsdirektion. Zudem merkte Kompatscher im Interview mit der Tageszeitung Dolomiten an, dass das Koalitionsprogramm zweisprachigen Unterricht an italienischen Schulen vorsehe, also etwa Geografieunterricht in deutscher Sprache. Dieses Modell wird bereits an einigen italienischsprachigen Schulen umgesetzt. Ob die flächendeckende Einführung von dem italienischen Bildungslandesrat Marco Galateo (Fratelli d’Italia) angestrebt wird, wäre überraschend. 

  • Pressekonferenz der Bildungsdirektion: Der Auftrag der Schule sei unter anderem die Inklusion, deshalb sind Sonderklassen nicht möglich. Foto: Seehauserfoto
  • Spracherwerb an Südtirols Schulen

    Wie die Lernstandserhebung im Bereich Lesen von dem Kompetenztest 2023 zeigt, erzielen deutschsprachige Kinder an Bozner Schulen keine schwächeren Leistungen als deutschsprachige Kinder anderer Südtiroler Schulen. Bei der Pressekonferenz wurden hierfür Klassenmittelwerte einer dritten Klasse der Goetheschule und einer Vergleichsklasse einer Grundschule im Westen des Landes präsentiert. „Es ist also eine ganz normale Situation“, betont Bildungsdirektor Tschenett. Dass in gemischten Klassen das Leistungsniveau sinke, sei daher „reine Meinungsmache“

    Im letzten Schuljahr hatten knapp 9 Prozent der Schülerinnen und Schüler an Südtirols deutschsprachigen Schulen einen Migrationshintergrund. In den letzten Jahren ist dieser Prozentsatz laut der Deutschen Bildungsdirektion mit leichten Schwankungen gestiegen. Zum Vergleich: An den italienischsprachigen Schulen lag dieser Anteil im vorigen Schuljahr bei 23,9 Prozent, bei den ladinischsprachigen Schulen bei 7 Prozent. 

    Aufgrund dieser Entwicklung stockte das Land auch die Stellen für die Sprachförderung an deutschsprachigen Schulen auf, waren es im Schuljahr 2019/20 noch 69 Stellen, sind es für das neue Schuljahr 149 Stellen und damit mehr als doppelt so viele. Alleine in den Grund- und Mittelschulen Bozens sind 28,21 Stellen für die Sprachförderung vorgesehen.

    Zudem sei keine Abwanderung von Schülerinnen und Schülern aus der Gemeinde Bozen bemerkbar: Im Schuljahr 2023/24 haben 78 Kinder und Jugendliche aus Bozen eine Grund- oder Mittelschule in einer Nachbargemeinde besucht. 92 Kinder und Jugendliche hingegen sind aus einer Nachbargemeinde nach Bozen gefahren, um dort die Grund- oder Mittelschule zu besuchen. 

  • Andrea Abel: „Die Einsprachigkeit in der schulischen Bildung ist kein didaktisches Konzept, sondern hat einen historischen Ursprung in der Bildung der Nationalstaaten im 19. Jahrhundert.“ Foto: Seehauserfoto

    Auch Andrea Abel, Professorin für germanistische Sprachwissenschaft der Freien Universität Bozen und Leiterin des Instituts für angewandte Sprachforschung der Eurac, rät auf der Pressekonferenz von Sonderklassen im Schulsystem ab. Dafür gebe es keine wissenschaftliche Evidenz – im Gegenteil, separater Unterricht erhöhe die Wahrscheinlichkeit eines frühzeitigen Schulabbruchs und beeinträchtige die sozialen Beziehungen von Kindern, wie eine Wiener Studie aus dem Jahr 2022 zeigt. Zudem stelle die Mehrsprachigkeit an der Schule aus wissenschaftlicher Sicht einen kognitiven, sozialen und kulturellen Mehrwert dar. 

    „Die Einsprachigkeit in der schulischen Bildung ist kein didaktisches Konzept, sondern hat einen historischen Ursprung in der Bildung der Nationalstaaten im 19. Jahrhundert“, so Abel. Sie spricht sich für eine kontinuierliche Förderung der Bildungssprache in allen Fächern und für alle Schülerinnen und Schüler aus. „Selbstverständlich ist die zunehmende Heterogenität an den Schulen eine Herausforderung, wir brauchen einen Ausbau der personellen, zeitlichen und räumlichen Ressourcen und die Didaktik zu Mehrsprachigkeit in der Aus- und Weiterbildung sollte verstärkt werden.“ 

    Hier habe das Bildungssystem in Südtirol bereits einiges an Vorarbeit geleistet, betont Landesschuldirektorin Falkensteiner: „Ich möchte hier eine Lanze für alle unsere Lehrpersonen und Schulführungskräfte brechen, die sich schon seit Jahren gemeinsam mit der Wissenschaft auf den Weg gemacht haben.“ 

    Die Sprachförderlehrkräfte unterrichten vier bis zehn Stunden pro Woche Kinder ohne ausreichend Deutschkenntnisse außerhalb der Klasse. Zudem steht den Schulen frei, die Schulklassen im Fach Deutsch nach Leistungsgruppen aufzuteilen. Außerdem unterstützen Netzwerkstellen den Übergang von Kindergarten und Grundschule auch auf sprachlicher Ebene. 

    Nicht zufrieden dürfte damit ein nigerianischer Staatsbürger gewesen sein, der die Pressekonferenz mit einem minutenlangen Monolog unterbrochen hat, um auf die Bozner Wohnungsnot hinzuweisen.