Eindrücke vom Erzählcafé
1945-2015 – 70 Jahre Befreiung: Erinnerungskulturen in Südtirol
"Meine sehr geehrten Damen und Herren,
liebe Frau Halonbrenner, liebe Herren Furcht, Breuer und Langer:
Ich bin nicht frei von einer gewissen Beklemmung, wenn ich zu Ihnen – in der gebotenen Kürze – einige einleitende Worte sprechen darf.
Denn zu sehr hat auch diese Stadt, haben auch dieses Land und seine Menschen sich un-menschlich erwiesen in Zeiten, in denen es schon ein Verbrechen war, jenen stromlinienförmigen Maßstäben nicht zu entsprechen, die an den Schreibtischen einer tödlichen Bürokratie ersonnen und von den Rednerpulten der Diktatoren und ihrer Presse eilfertig verkündet wurden.
Es waren Bertolt Brechts “finstere Zeiten”, die er im dänischen Exil 1937 mit den Worten apostrophierte: “Was sind das für Zeiten, wo ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist, weil es das Schweigen über soviele Untaten einschließt!” (Svendborger Gedichte: “An die Nachgeborenen”)
Nicht nur die Literatur stieß und stößt an ihre Grenzen in der Beschreibung des Unbeschreiblichen. Dies im Foyer eines städtischen Theaters einzugestehen, verweist auch auf dessen nach wie vor unabgegoltene Funktion als “moralische Anstalt”, wie dies unübertroffen Friedrich Schiller 1784 als dauernden Auftrag und Aufklärungsanspruch formulierte.
Dieselbe Not des Darstellens gilt für die Geschichtsforschung, bekanntlich eine eher begriffliche Zunft.
Da ich zu Ihnen hier als Historiker spreche, mache ich mir einige erinnerungskulturelle Überlegungen zu eigen. Was ist öffentliche Erinnerung, von wem stammt sie und für wen ist sie?
70 Jahre nach Kriegsende und Befreiung sind eben nicht 70 Jahre nach Aufarbeitung und Wiedergutmachung. Dieses ist entweder überhaupt unterblieben oder hat viel zu lange gedauert, so es denn versucht wurde. Sabine Mayrs und Joachim Innerhofers schönes Buch ist ein so überfälliger wie wichtiger Schritt dorthin. Auch die Intendanz dieses Theaters greift gerne zeithistorische Themen auf, und dies ohne nostalgische Absicht, was hervorgehoben zu werden verdient.
Denn Erinnerung und Gedächtnis sind niemals abgeschlossen. Jede Generation muss dies neu leisten, und zwar in vorgefundenen Verhältnissen. Es ist daher wichtig, dass junge Menschen, die grundsätzlich wissen wollen, auch wissen können und dass ihnen dieses Wissen auf eine Weise zur Verfügung gestellt wird, die so verständlich wie unübersehbar sein muss.
Der schwierige Umgang dieses Landes und dieser Stadt mit ihrer Gewaltgeschichte hat sicher auch damit zu tun, dass sich bisweilen die Falschen als Opfer wähnten. Bei den jüdischen MitbürgerInnen kann daran allerdings keinerlei Zweifel bestehen. Sie stehen zu Recht im Mittelpunkt von Gedächtnisbemühungen. Die Stadt Bozen hat die Außenmauer des ehemaligen nationalsozialistischen Konzentrationslagers in der Reschenstraße im Jahr 2012 zur “Passage der Erinnerung” umgestaltet. Auch an den Orten der Zwangsarbeit und der Deportation sind Gedenkstätten entstanden.
2014 wurde am Bozner Siegesdenkmal – einer architektonischen Großinstallation und bewussten “Ästhetisierung der Politik” (W. Benjamin) des italienischen Faschismus von 1928, der zehn Jahre später die berüchtigten Rassengesetze folgten –eine Dokumentations-Ausstellung unter dem Titel “Ein Denkmal, eine Stadt, zwei Diktaturen” eingerichtet. Die Aufarbeitung versucht, die doppelte Diktaturerfahrung Südtirols, den doppelten Faschismus vor Ort zur Sprache zu bringen. Überlebende des Bozner NS-Lagers kommen in eindrücklichen Videos zu Wort. Eine wachsende Zahl von Schulklassen besucht den frei zugänglichen Geschichtsort.
Zum heurigen internationalen Holocaust-Gedenktag wurden im Stadtzentrum Bozens von Gunter Demnig fünfzehn sogenannte Stolpersteine verlegt. Man stolpert über sie mit dem Herzen und mit dem Verstand. Sie erinnern an Rechtswillkür, gesellschaftliches Totalversagen, vor allem aber an von blindem Fanatismus zerstörte Biografien. Sie erinnern unter anderem an die nur dreieinhalbjährige Olimpia Carpi, die mit ihrer Familie im September 1943 von den Schergen abgeholt und bald darauf in Auschwitz-Birkenau ermordet wurde. Eine von so vielen.
Ich denke, und komme damit zum Schluss, die Erinnerungskultur dieses Landes und dieser Stadt hat sich in den letzten Jahren gewandelt. Und zwar unwiderruflich gewandelt. Die Eliten Südtirols drücken sich nicht mehr um das Bekenntnis, dass jüdischen MitbürgerInnen auch hier schreckliches Leid zugefügt wurde.
Wir können nur hoffen, dass die Auseinandersetzung mit der Geschichte des Holocaust zum wesentlichen Bestandteil der politischen Kultur dieser Stadt und dieses Landes werden. Dies wäre die wichtigste Europäisierung und Universalisierung, die unsere Zivilgesellschaft benötigt.
Ich danke Ihnen."