Politics | Ausgangssperre

Die Zweihundertmeterläufer

Im Dschungel der Maßnahmen zur Eindämmung der Covid-19- Epidemie geht unser rechtsstaatlicher Kompass verloren
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Gazzetta Ufficiale
Foto: Christoph Tappeiner

Nach einem Monat Ausgangssperre lockt draußen hämisch die Frühlingssonne und bereits der tägliche Gang zur Mülltonne gerät zur willkommenen Abwechslung. Die Statistiker vermelden die erste Abflachung der Infektionskurven, doch richtiger Optimismus will nicht aufkommen. Angesichts einer der größten weltweiten Tragödien der Nachkriegsgeschichte, vergeht kaum ein Tag ohne neue Hiobsbotschaften. Wir alle haben solch beklemmende Eingriffe in unsere als alltäglich empfundenen Freiheiten noch nie erlebt. Und wer von einer Tragödie im familiären Umfeld verschont geblieben ist, leidet unter gravierenden Einschränkungen der als so selbständig betrachteten Bewegungs- und Reisefreiheit, des Rechts auf Arbeit und wirtschaftliche Tätigkeit, dem Fehlen der sozialen Kontakte.

Verabschiedet zum Schutze der öffentlichen Gesundheit, betreffen die nun geltenden Beschränkungen gleich mehrere unserer in der Verfassung geschützten Rechte. Die Grundlage dafür bildet der am 31. Jänner vom Ministerrat verhängte Ausnahmezustand, der einen ganzen Wasserfall an Eingriffen mit sich gebracht hat. Letzthin finden sich in den Berichten vieler Medien Verweise auf angeblich von einigen Bürgermeistern (Meran, Bozen) erlassene Maßnahmen, welche die noch erlaubten Freigänge für Sport und Erholung auf zweihundert Meter um das eigene Domizil einschränken. In den sozialen Netzwerken zirkulieren gleichlautende Hinweise von angeblichen Ordnungshütern. Es stellt sich die Frage der Legitimität solcher Maßnahmen.

Doch der Reihe nach: prinzipiell steht es den Bürgermeistern - und auf einer anderen Ebene auch den Präfekturen (bei uns dem Regierungskommissariat bzw. dem Landeshauptmann) zu, im Falle einer sanitären Dringlichkeitslage und im Rahmen ihrer örtlichen Zuständigkeit Beschneidungen der Bewegungsfreiheit u.ä. zu verfügen. So wurden auch in der aktuellen Krise in den anfänglich betroffenen Gebieten einstweilige Maßnahmen durch die Lokalverwaltungen verhängt, welche jedoch spätestens mit Verabschiedung des Gesetzesdekrets Nr. 6 vom 23. Februar 2020 und den späteren Dekreten des Präsidenten des Ministerrates ausdrücklich aufgehoben wurden. Die Bewältigung der Krise wurde sozusagen zur Chefsache erklärt, und es folgten die aus unseren Eigenerklärungen bekannten weiteren Conte- Dekrete, welche sukzessive den Lockdown einführten.

Einstweiligen Schlusspunkt in dieser Reihe von Beschränkungen bildet nun das Gesetzesdekret Nr. 19 vom 25. März 2020, welches in Kürze mit Vertrauensvotum durch die Kammern des Parlaments bestätigt werden soll. In diesem Dekret werden zunächst die bereits verhängten und bekannten Maßnahmen aufgelistet; sodann wird vorgeschrieben, wer welche Zuständigkeiten besitzt. Die Verabschiedung der Beschränkungen liegt demnach ausschließlich beim Präsidenten des Ministerrates, auf Vorschlag einzelner Minister, der Präsidenten der Regionen und Autonomen Provinzen und des Vorsitzenden der Regionenkonferenz. 

Zwar können die einzelnen Regionen im Bereich ihrer Zuständigkeit und im staatlich vorgegebenen Rahmen weitere, auch einschneidendere Maßnahmen verabschieden, doch gelten diese ausschließlich provisorisch, bis eine entsprechende Regelung durch die Zentralregierung erfolgt. Ebenso muss jeder regionale Alleingang durch eine nachträgliche Verschlechterung der sanitären Lage begründet sein ("in relazione a specifiche situazioni sopravvenute di aggravamento del rischio sanitario verificatesi nel loro territorio"). Somit ist mehr als fraglich ob die von Landeshauptmann Kompatscher verabschiedete - und auch in wissenschaftlicher Hinsicht nicht unumstrittene - Maskenpflicht überhaupt rechtens ist, und ob bei Nichtbeachtung eine Sanktion verhängt werden kann.

Jede einschränkende Maßnahme muss zudem vor ihrem Inkrafttreten im Amtsblatt der Republik ("Gazzetta Ufficiale") veröffentlicht worden sein, sozusagen als rechtsstaatliche Mindestsicherung für die BürgerInnen. Gänzlich ausgeschlossen ist jedenfalls die in Abweichung von den staatlichen Maßnahmen getroffene Verabscheidung von Notverordnungen durch die Bürgermeister ("a pena di inefficacia"), womit sich die Diskussion über die 200- Meter Beschränkung erübrigen würde. Die auch für die Gemeinden geltende Voraussetzung der Begründung durch eine nachträgliche Verschlechterung der sanitären Lage scheint zum heutigen Datum glücklicherweise nirgendwo zu bestehen.

Es ist natürlich verständlich, dass die Ordnungskräfte durch dieses Gewirr an Bestimmungen einiges an Klarheit vermissen werden, doch ist auch ein Quästor kein Gesetzgeber und kann daher keine verbindlichen Anweisungen für die Einhaltung bestimmter Abstände einführen. Nebenbei wäre die Beschränkung auf zweihundert Meter nicht gerade sehr zweckdienlich, denn der Sinn der Beschränkung der Bewegungen auf die nähere Umgebung des häuslichen Domizils hat in erster Linie die Vermeidung von Menschenansammlungen im Auge, was wohl kaum dadurch gewährleistet würde, wenn alle aus ihren Kondominien stürmen und zweihundert Meter auf und ab spazieren. Oder gar radfahren, denn auch diese sportliche Betätigung ist laut FAQ der Webseite des Ministerpräsidentenamtes nach wie vor erlaubt. Oder habe ich alles falsch verstanden, und es handelt sich bei den zweihundert um Höhenmeter?

www.rechtsanwalt-tappeiner.it