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Weihnachtsgeschichte

Josef Oberhollenzer hat für das Buch "Südtiroler Weihnacht" eine Weihnachtsgeschichte geschrieben. Salto übernimmt das feinsinnige literarische Geschenk und bedankt sich.
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Foto: Privat

Ich will eine geschichte erzählen, sagt er, eine geschichte von 
einem kind. Von einem kind, sagt er, das geboren wird. Das 
geboren wird, sagt er, damit es sterben kann. Wie alle kinder, 
sagt er, wenn sie lang genug gewesen sind. Auf der erd hier, 
dort, oder wo am morgen die sonne aufgeht. 
Ein mädchen, sagt er, vielleicht in Afghanistan. Am vierund-
zwanzigsten dezember, in einer höhle, in einem berg. Weil
dann der tag länger wird, sagt er. Weil das licht zunimmt mit 
jedem tag, den das jahr an sein ende wächst. Den das kind hin 
lebt gegen den tod, dem monde zu.
Wenn das leben abnimmt, sagt er, nimmt das licht zu. So ist 
die hoffnung ausgesät, irgendwann wird sie eingebracht. 
Nach einem sichelschnitt, sagt er, wenn sie nicht zertreten 
war. Wenn kein sturm über ihr sehnen ist, in ihr herz hinein. 
Das kind soll Anahita heißen, da fängt die geschichte an.

*

Die höhle ist dunkel gewesen wie sonst ein loch. Wie der keller 
vielleicht damals in großmutters haus, wo sie im winter die 
kartoffeln gelagert hat. Aber als sie langsam hineinging, vom 
kind im bauche schwer, hat sie sich bald umhüllt gefühlt. Und 
mittendrin, wie sie glaubt, läßt sie sich auf die erde hinab. 
Und dann legt sie den tschador ab und wickelt neben dem 
schoße ein nest. Da hatten sich die augen schon an das dunkel 
gewöhnt.
Jetzt holt sie das feuerzeug hervor, dreht den docht höher ins 
glas. Und im flackernden petroleumlicht, endlich fühlt sie 
sich geborgen, und vor der weit draußen geschützt. Wo sie 
beinah aufgegeben hatte, im schnee. Aber immer vor dem 
andern einen fuß, so war sie doch weiter, immer weiter, 
bis sie in die höhle fand. Wo sie im letzten sommer des kriegs 
ihren mann auf der weide begrub. Vielleicht hatte sie ihn nie ge-
liebt, aber dann fehlte er doch. So kauerte sie nun, so wartete 
sie. Die welt draußen, wo es niemals ein ausruhn gab. 
Doch, Anahita, so soll es heißen, das kind.

*

Und von allem müd schlief sie ein, das licht flackerte schräg, 
atemlos tanzten die schatten in ihren traum. Und wieder 
träumte sie, was sie in so vielen nächten schon träumt. Wie sie 
zwischen den bergen ist und geht und geht, wie sie nicht aus 
den bergen kommt. Sie will weg in ein land, von dem sie weiß, 
es ist schön. Das weiß sie. Und sie weiß, da ist sie schon 
gewesen, als kind. Und jetzt sehnt sie sich danach, und mit 
jedem schritt noch mehr. So geht sie und geht, aber hinter 
jedem berg ist ein berg, aber ihr sehnen wächst weiter, bergan 
zum himmel hinauf. Aber am ende, oben, am Übergang, stürzt 
es wieder wie davor wie ein wildbach bergab. Bis immer, 
irgendwann, als sie sich wieder hinlegen will, unter den 
Walnußbaum, als ihr der bauch schwer geworden ist und der 
rücken schmerzt, die weit sich doch öffnet wie am morgen die 
nacht. Bis zu einem horizont, der wie der bogen ihres vaters 
gebogen ist, mit dem er „meiner Khadidscha" den schneeleo-
parden schoß, liegt die erde mit milden hügeln vor ihren 
augen weit. Wie meines vaters bogen, so liegt die erde ge-
spannt. Dann rennt sie, schier fliegt sie dem erdbogen zu. 
Und schon ist sie fast dort, da wacht sie auf. 
Ach, läge die Anahita weich, wie läge meine Anahita warm, 
aber träumt sie in dieser nacht, und sie fliegt und rennt. Und 
dann, so glücklich, daß es ihr fast das herz zerreißt, steht sie 
endlich und schaut, auf dem horizont. 

*

Im schneeleopardenfell lag Anahita neben ihrem schoß. So 
war sie aufgewacht, die schatten tanzten die höhle aus. Sie 
nahm Anahita in die arme und wiegte sie. Aber das tschador- 
nest war mit früchten voll. So tat sie ihre kleider auf und legte 
das kind an die brüst. Und auf einmal, und es geschah. Was 
davor nur Zuflucht war, ein letzter ort, war auf einmal warm 
wie ein schoß und mit geschichten voll. Die drangen aus allen 
winkeln, brachen sich an den kanten rund, sie spannen sich 
um die beiden, die trugen sie fort.
So saß sie in der höhle unterm walnußbaum. Sie hat ihr kind 
wohl im arm, sie faßt es sicher, sie hält es warm. So schaut sie 
noch lang in den horizont, dort sieht sie, bleich, den kind- 
heitsmond. Dann steht sie auf, geht weinend auf den vater zu, 
dort wartet er und singt, was gewesen wär. Weit vom erdbo-
gen her weht der wind sein lied.

*

In der ferne und vielleicht in Afghanistan, dort trüge sich die 
geschichte zu. Und einmal flöge, während es schneite, ein 
licht drüberhin. Dann glänzten Anahitas augen wie einst in 
der märchenwelt. So wüchse sie auf, aber niemand wüßte 
dann, wie. Nur ihre augen, in manchen nächten, erschienen 
einem da und dort. Dann hielte für eine weile das staunen an. 
Aber auch ein anderes wort löschte es bald wieder aus. Und 
wie immer, wie vorher, folgte auf den morgen die nacht.

*

Aber an einem anderen morgen ging sie fort mit dem kind. 
Dort draußen warf der schnee die wintersonne zurück. Bald 
ginge sie auch bei uns hinter den bergen auf. Und Anahita 
träumte im schneeleopardenfell, sie atmete ein, was sie dann 
niemals weiß. Weiß liegt die landschaft und das tal unten still.
Und sie müht sich im tschador, schritt um schritt, dort viel- 
leicht liegt das rettende nah. Wenn sie keine zuflucht findet, 
ist ihr märchen aus. Bis zum schoß sinkt sie manchmal ein. 
Wenn sie nicht mehr weiter kann, drückt sie Anahita an sich. 
So geht sie und geht, dem abend zu. Und von irgendwo, von 
den bergen herab, vom tal herauf, hört sie sein lied, weit von 
der kindheit her.

Hab ach mein lieb und mein verlangen 
Mir zugefügt mit herz und haar 
Ein weinen geht und noch ein bangen 
Vorüber uns in nacht und jahr

Was jetzt noch blüht und nicht vergeht 
Wie unser traum ins herz hinab 
Ist heut wie schnee vom wind verweht 
Und gräbt uns schon die lieb ins grab

So geht sie und geht, sie hört von irgendwo. Mit müh und not, 
so gräbt sich das glück ins herz. Wenn der schnee sich öffnet
sind sie anderntags frei. Dann ist ihr, sie fiele, sie läge warm.

*

Ich wollte eine geschichte erzählen, sagt er, eine geschichte 
von einem kind. Von einem kind, sagt er, das geboren wird. 
Das geboren wird, sagt er, damit es sterben kann. Wie alle 
kinder, sagt er, wenn sie lang genug gewesen sind. Auf der erd 
hier, dort, wo morgen die sonne aufgeht. Das kind soll Anahi-
ta heißen, da fing die geschichte an.


aus dem Buch: Südtiroler Weihnacht (Folio Verlag)