Weihnachtsgeschichte
Ich will eine geschichte erzählen, sagt er, eine geschichte von
einem kind. Von einem kind, sagt er, das geboren wird. Das
geboren wird, sagt er, damit es sterben kann. Wie alle kinder,
sagt er, wenn sie lang genug gewesen sind. Auf der erd hier,
dort, oder wo am morgen die sonne aufgeht.
Ein mädchen, sagt er, vielleicht in Afghanistan. Am vierund-
zwanzigsten dezember, in einer höhle, in einem berg. Weil
dann der tag länger wird, sagt er. Weil das licht zunimmt mit
jedem tag, den das jahr an sein ende wächst. Den das kind hin
lebt gegen den tod, dem monde zu.
Wenn das leben abnimmt, sagt er, nimmt das licht zu. So ist
die hoffnung ausgesät, irgendwann wird sie eingebracht.
Nach einem sichelschnitt, sagt er, wenn sie nicht zertreten
war. Wenn kein sturm über ihr sehnen ist, in ihr herz hinein.
Das kind soll Anahita heißen, da fängt die geschichte an.
*
Die höhle ist dunkel gewesen wie sonst ein loch. Wie der keller
vielleicht damals in großmutters haus, wo sie im winter die
kartoffeln gelagert hat. Aber als sie langsam hineinging, vom
kind im bauche schwer, hat sie sich bald umhüllt gefühlt. Und
mittendrin, wie sie glaubt, läßt sie sich auf die erde hinab.
Und dann legt sie den tschador ab und wickelt neben dem
schoße ein nest. Da hatten sich die augen schon an das dunkel
gewöhnt.
Jetzt holt sie das feuerzeug hervor, dreht den docht höher ins
glas. Und im flackernden petroleumlicht, endlich fühlt sie
sich geborgen, und vor der weit draußen geschützt. Wo sie
beinah aufgegeben hatte, im schnee. Aber immer vor dem
andern einen fuß, so war sie doch weiter, immer weiter,
bis sie in die höhle fand. Wo sie im letzten sommer des kriegs
ihren mann auf der weide begrub. Vielleicht hatte sie ihn nie ge-
liebt, aber dann fehlte er doch. So kauerte sie nun, so wartete
sie. Die welt draußen, wo es niemals ein ausruhn gab.
Doch, Anahita, so soll es heißen, das kind.
*
Und von allem müd schlief sie ein, das licht flackerte schräg,
atemlos tanzten die schatten in ihren traum. Und wieder
träumte sie, was sie in so vielen nächten schon träumt. Wie sie
zwischen den bergen ist und geht und geht, wie sie nicht aus
den bergen kommt. Sie will weg in ein land, von dem sie weiß,
es ist schön. Das weiß sie. Und sie weiß, da ist sie schon
gewesen, als kind. Und jetzt sehnt sie sich danach, und mit
jedem schritt noch mehr. So geht sie und geht, aber hinter
jedem berg ist ein berg, aber ihr sehnen wächst weiter, bergan
zum himmel hinauf. Aber am ende, oben, am Übergang, stürzt
es wieder wie davor wie ein wildbach bergab. Bis immer,
irgendwann, als sie sich wieder hinlegen will, unter den
Walnußbaum, als ihr der bauch schwer geworden ist und der
rücken schmerzt, die weit sich doch öffnet wie am morgen die
nacht. Bis zu einem horizont, der wie der bogen ihres vaters
gebogen ist, mit dem er „meiner Khadidscha" den schneeleo-
parden schoß, liegt die erde mit milden hügeln vor ihren
augen weit. Wie meines vaters bogen, so liegt die erde ge-
spannt. Dann rennt sie, schier fliegt sie dem erdbogen zu.
Und schon ist sie fast dort, da wacht sie auf.
Ach, läge die Anahita weich, wie läge meine Anahita warm,
aber träumt sie in dieser nacht, und sie fliegt und rennt. Und
dann, so glücklich, daß es ihr fast das herz zerreißt, steht sie
endlich und schaut, auf dem horizont.
*
Im schneeleopardenfell lag Anahita neben ihrem schoß. So
war sie aufgewacht, die schatten tanzten die höhle aus. Sie
nahm Anahita in die arme und wiegte sie. Aber das tschador-
nest war mit früchten voll. So tat sie ihre kleider auf und legte
das kind an die brüst. Und auf einmal, und es geschah. Was
davor nur Zuflucht war, ein letzter ort, war auf einmal warm
wie ein schoß und mit geschichten voll. Die drangen aus allen
winkeln, brachen sich an den kanten rund, sie spannen sich
um die beiden, die trugen sie fort.
So saß sie in der höhle unterm walnußbaum. Sie hat ihr kind
wohl im arm, sie faßt es sicher, sie hält es warm. So schaut sie
noch lang in den horizont, dort sieht sie, bleich, den kind-
heitsmond. Dann steht sie auf, geht weinend auf den vater zu,
dort wartet er und singt, was gewesen wär. Weit vom erdbo-
gen her weht der wind sein lied.
*
In der ferne und vielleicht in Afghanistan, dort trüge sich die
geschichte zu. Und einmal flöge, während es schneite, ein
licht drüberhin. Dann glänzten Anahitas augen wie einst in
der märchenwelt. So wüchse sie auf, aber niemand wüßte
dann, wie. Nur ihre augen, in manchen nächten, erschienen
einem da und dort. Dann hielte für eine weile das staunen an.
Aber auch ein anderes wort löschte es bald wieder aus. Und
wie immer, wie vorher, folgte auf den morgen die nacht.
*
Aber an einem anderen morgen ging sie fort mit dem kind.
Dort draußen warf der schnee die wintersonne zurück. Bald
ginge sie auch bei uns hinter den bergen auf. Und Anahita
träumte im schneeleopardenfell, sie atmete ein, was sie dann
niemals weiß. Weiß liegt die landschaft und das tal unten still.
Und sie müht sich im tschador, schritt um schritt, dort viel-
leicht liegt das rettende nah. Wenn sie keine zuflucht findet,
ist ihr märchen aus. Bis zum schoß sinkt sie manchmal ein.
Wenn sie nicht mehr weiter kann, drückt sie Anahita an sich.
So geht sie und geht, dem abend zu. Und von irgendwo, von
den bergen herab, vom tal herauf, hört sie sein lied, weit von
der kindheit her.
Hab ach mein lieb und mein verlangen
Mir zugefügt mit herz und haar
Ein weinen geht und noch ein bangen
Vorüber uns in nacht und jahr
Was jetzt noch blüht und nicht vergeht
Wie unser traum ins herz hinab
Ist heut wie schnee vom wind verweht
Und gräbt uns schon die lieb ins grab
So geht sie und geht, sie hört von irgendwo. Mit müh und not,
so gräbt sich das glück ins herz. Wenn der schnee sich öffnet
sind sie anderntags frei. Dann ist ihr, sie fiele, sie läge warm.
*
Ich wollte eine geschichte erzählen, sagt er, eine geschichte
von einem kind. Von einem kind, sagt er, das geboren wird.
Das geboren wird, sagt er, damit es sterben kann. Wie alle
kinder, sagt er, wenn sie lang genug gewesen sind. Auf der erd
hier, dort, wo morgen die sonne aufgeht. Das kind soll Anahi-
ta heißen, da fing die geschichte an.
aus dem Buch: Südtiroler Weihnacht (Folio Verlag)
Vielen Dank für die so
Vielen Dank für die so berührende Geschichte.