Politics | Gaza-Krieg

„Es gibt kaum einen Ausweg“

Der österreichische Völkerrechtler Wolfgang Benedek, über die Entwicklung in Israel der letzten 30 Jahre, die Zweistaatenlösung, die entscheidende Rolle der USA und den Willen vieler westlicher Staaten, Palästina anzuerkennen.
Wolfgang Benedek
Foto: Universität Graz
  • SALTO: Professor Benedek, 31 Jahre nach der Verleihung des Friedensnobelpreises an Jassir Arafat, Shimon Peres und Jitzchak Rabin und 30 Jahre nach der Ermordung von Rabin liegt Gaza in Schutt und Asche. Was ist da passiert in den letzten 30 Jahren?

    Benedek: In einer der ersten wissenschaftlichen Arbeiten, die ich geschrieben habe, ging es um die Anerkennung der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) durch die österreichische Regierung in den 80er Jahren. Seit dieser Zeit verfolge ich die Entwicklung im Nahen Osten und in Israel mit einem gewissen Interesse. Über die Jahre ist es zu einer Auseinanderentwicklung gekommen. Auf beiden Seiten haben sich die konservativen – um nicht zu sagen radikalen – Kräfte immer stärker durchgesetzt. Wir sehen das bei den Palästinensern: die Palästinensische Behörde und die Fatah wurden im Gazastreifen ausgebotet, während auf der israelischen Seite die moderateren Kräfte – Sozialdemokratie oder auch Friedensbewegung – an Bedeutung stark verloren haben. 

  • Nobelpreis 1994: Jassir Arafat, Shimon Peres, Jitzchak Rabin Foto: Saar Yaacov, Government Press Office; Wikicommons
  • Was bedeutet das für die Zweistaatenlösung?

    In den besetzten Gebieten sind immer mehr illegale Bauten errichtet worden. Man hat hier also Fakten geschaffen, die eine Zweistaatenlösung immer schwerer denkbar erscheinen lassen. Dennoch hat Israel sich lange noch zur Zweistaatenlösung bekannt. Ich denke da etwa an einen Vortrag der israelischen Botschafterin in Österreich an der Universität Graz, die vor ein paar Jahren noch, auf meine Frage, ob Israel denn an der Zweistaatenlösung festhalte, das heftig bestätigt hat. Da war auch schon Netanyahu am Ruder. In Wirklichkeit hat man aber Fakten geschaffen, die es immer mehr verunmöglichen eine solche Zweistaatenlösung durchzuführen. Innerhalb eines gemeinsamen Staates eine Lösung zu finden, wurde durch ein Gesetz erschwert, das festlegt, dass der jüdische Charakter des Staates zu erhalten sei. Damit befindet man sich in einem Dilemma, für das es kaum einen Ausweg gibt.

  • Zur Person

    Wolfgang Benedek ist Universitätsprofessor für Völkerrecht im Ruhestand. Von 2003 bis 2016 leitete er das Institut für Völkerrecht und internationale Beziehungen an der Universität Graz. Außerdem leitete er das Europäische Trainings- und Forschungszentrum für Menschenrechte und Demokratie in Graz, das er auch mitbegründet hat. Benedek lehrt – trotz Ruhesstands - an der Diplomatischen Akademie in Wien und an verschiedenen Universitäten in Österreich, Slowenien und Bosnien-Herzegowina.

  • Welchen Ausweg könnte es denn geben?

    Da gibt es kompetentere als mich, die das auch nicht wissen. Die Situation ist verfahren, die Auswanderung aus Israel nimmt zu. Es gibt immer mehr Leute, die sagen: das hat keine Zukunft mehr, was hier politisch passiert. Die Zweistaatenlösung ist nur realistisch, wenn sich eine ganze Reihe von Faktoren ändern.

     

    „Bei der Fatah in den besetzten Gebieten hat es seit fast 20 Jahren keine Wahlen mehr gegeben.“

     

    Zum Beispiel?

    Zum Beispiel die Reform der Palästinensischen Behörde. Bei der Fatah in den besetzten Gebieten hat es seit fast 20 Jahren keine Wahlen mehr gegeben. Das heiß die Legitimität der Politiker dort ist extrem gering. Auch das hat zur Radikalisierung beigetragen – vor allem bei den Jungen, die in diese Führung nicht mehr ihr Vertrauen setzen. Dann müssten bestimmte Siedlungsprojekte zurückentwickelt werden. Es müssten Gebiete definiert werden, in denen sie bestehen bleiben können und Gebiete, in denen die palästinensische Autorität wirksam werden kann. Und dann ist immer noch die Frage: was passiert mit Gaza? Kann man das zusammenführen in einen Staat. Hier sind die inneren Widersprüche auch auf palästinensischer Seite enorm. Dazu kommen noch die unterschiedlichen Vorstellungen der arabischen Welt, die hier Einfluss nimmt. Das macht es alles nicht leichter.

  • Karte von Israel: Gazastreifen im Westen, Westjordanland im Osten. Foto: Screenshot, Wikipedia
  • Sie spielen darauf an, dass der Gazastreifen ganz im Westen Israels liegt, während das Westjordanland ganz im Osten liegt. Wüsste man eigentlich, wo der palästinensische Staat, wenn er denn käme, wäre?

    Natürlich wüsste man das, denn es gibt UNO-Resolutionen dazu. Es wäre durchaus denkbar Verbindungen zu schaffen, um die beiden Palästinensergebiete miteinander zu verknüpfen. Korridore, die hier geschaffen werden, wären eine Möglichkeit. Oder es werden zwei Gebiete, die politisch zusammenwirken, aber räumlich getrennt sind. Aserbaidschan hat eine Enklave in Armenien. Das kann auch funktionieren. Grundvoraussetzung für solche Lösungen ist immer ein Vertrauensverhältnis und das ist auf längere Sicht nicht erkennbar.

     

    „Die so genannte Terrorismusbekämpfung hat so viel Leid verursacht, dass es natürlich immer Leute geben wird, die den Kampf fortführen und sich rächen wollen.“

     

    Kann es das überhaupt geben nach den Gräueln der Hamas in Israel und der Reaktion Israels auf diese Terrorakte?

    Das müsste man die Betroffenen fragen. Die Stimmen, die ich höre – da gibt es leise Stimmen, die sagen, wir müssen es schaffen und laute Stimmen, die sagen, das ist nicht möglich.
    Die so genannte Terrorismusbekämpfung hat so viel Leid verursacht, so viele Familien betroffen, dass es natürlich immer Leute geben wird, die den Kampf fortführen und sich rächen wollen, für das, was ihrem Land oder ihrer Familie angetan wurde.

    Gibt es denn keine erprobten Mechanismen, die man anwenden könnte, um die Basis für Frieden zu legen?

    Ich bin kein Friedensforscher. Ich beobachte die Entwicklung aus der Sicht des Völkerrechts. Die Anerkennung souveräner Rechte ist dafür Voraussetzung, ebenso wie die Umsetzung der UNO-Resolutionen, die ja da sind, die aber von Israel weitestgehend ignoriert werden. Die UNO ist für Israel ja geradezu ein Feindbild geworden. Die Berichte der UNO werden nicht akzeptiert, die Fakten, die die UNO feststellt, werden geleugnet. Da wird es schon schwierig ein positives Zukunftsszenario zu zeichnen. Die israelische Regierung müsste sich ändern, genauso wie sich auf der palästinensischen Seite eine Regierung finden müsste, die das Vertrauen der Bevölkerung hat.

    Präsident Abbas ist also nicht mehr der richtige Mann auf palästinensischer Seite?

    Er wird akzeptiert, weil niemand sonst da ist, mit dem man sprechen könnte. Ihm fehlt aber der Rückhalt in der Bevölkerung, das ist auch ein offenes Geheimnis. Die Frage ist aber eben: wer setzt sich dann durch? Für Israel ist das sehr angenehm zu sehen, dass die Palästinenser keine effiziente Führung haben, denn dadurch können sie ihre Politik der Teilung und des gegenseitigen Ausspielens von Palästinensern fortsetzen.

    Auch Israels Regierung wird von der eigenen Bevölkerung scharf kritisiert. In Tel Aviv demonstrierten 200.000 Menschen gegen Israels Kriegsführung und forderten einen Deal mit Hamas. Steht die israelische Regierung gegen das eigene Volk?

    Wenn jetzt gewählt werden würde, bekäme diese Regierung keine Mehrheit mehr. Sie hat aber weiterhin ein Mandat, weil es Legislaturperioden gibt. Derzeit ist das parlamentarische Geschehen ohnehin unterbrochen. Das erlaubt es der Regierung, Maßnahmen ohne parlamentarische Kontrolle zu setzen. Diese Politik hat auch damit zu tun, dass Netanyahu von rechtsextremen Parteien und ihren Ministern abhängt. Das schränkt den Spielraum für Lösungen natürlich zusätzlich ein.

     

    „Das Verhältnismäßigkeitsprinzip in der Reaktion ist längst überschritten.“

     

    Die UNO hat kürzlich darauf hingewiesen, dass Israel Völkerrecht bricht. Ist das wirklich so?

    Israel bricht mit seinem Vorgehen im Gazastreifen und mit seiner Siedlungspolitik Völkerrecht. Das ist auch vom Internationalen Gerichtshof festgestellt. Der Internationale Gerichtshof hat auch eine einstweilige Verfügung erlassen, dass Israel alles zu unterlassen hat, was in Richtung Völkermord gehen könnte. Die UNO hat eine Reihe von Feststellungen getroffen, die Israels Regierung zwar von sich weist, aber die immerhin die Autorität der Vereinten Nationen haben, die besagen, dass Völkerrecht verletzt wird. Israel hat natürlich das Selbstverteidigungsrecht. Nach dem Überfall im Oktober 2023 war auch klar, dass Israel seine Sicherheit wieder herstellen muss, aber in der Zwischenzeit ist das Verhältnismäßigkeitsprinzip in der Reaktion längst überschritten. Israel setzt sich durch Maßnahmen, die man nur als Kriegsverbrechen bezeichnen kann, selbst ins Unrecht.

    Was meinen Sie, wenn Sie Kriegsverbrechen sagen?

    Die Bombardierung von Krankenhäusern, das Töten von Menschen bei der Essensausgabe oder das Töten von Rettungskräften und Journalisten. Wir können lange darüber diskutieren, ob man das als Völkermord oder als Verbrechen gegen die Menschlichkeit bezeichnet. In jedem Fall sind es Verbrechen. Das man das abstreitet oder Untersuchungen ankündigt und man dann nichts mehr davon hört, dass man unabhängige Untersuchungen nicht zulässt, dass man Journalisten im Gazastreifen nicht zu lässt, außer für PR-Aktionen, das alles spricht seine eigene Sprache.

  • Palästinenser Präsident Mahmud Abbas: „Ihm fehlt aber der Rückhalt in der Bevölkerung“. Foto: Gobierno de Chile, Wikipedia
  • Wird das Vorgehen Israels zur Zerreißprobe für die westliche Welt?

    Das sehe ich nicht. Im Westen ist – mit Ausnahme der USA – inzwischen eine allgemeine Ablehnung der Fortsetzung des Krieges unter diesen Bedingungen zu beobachten. Selbst Deutschland und Österreich, die aus historischen Gründen Israel immer unterstützt haben, haben deutlich erklärt, dass sie ihrem Freund Israel sagen müssen, dass es so nicht weitergeht.

    Glauben Sie, dass die Proteste gegen Israel im politischen Westen antisemitisch motiviert sind?

    Sie sind vor allem auf das Kriegsgeschehen und das Leiden der palästinensischen Zivilbevölkerung zurückzuführen. Aber natürlich kann die Ablehnung der Politik des israelischen Staates und seiner gegenwärtigen Regierung antisemitische Tendenzen zur Folge haben. Andererseits protestieren die Menschen in Israel ja auch gegen den Krieg und die eigene Regierung. Menschen also, die die protestierenden Menschen in Israel unterstützen, nun als Antisemiten zu bezeichnen, ist schon ein wenig absurd. 

    Geht man mit Israel auch deswegen so hart in die Kritik, weil eine auf Rechtsstaatlichkeit beruhende parlamentarische Demokratie wie Israel sich nicht so zur Unverhältnismäßigkeit hinreißen lassen dürfte?

    Ich sehe nicht, dass man mit Israel hart in die Kritik geht. Jeder andere Staat würde härter kritisiert werden. Israel wird immer noch als Ausnahmefall behandelt und eher weniger kritisiert, weil man sagt, dass ist eine westlich organisierte Demokratie, mit Mechanismen, die schützenswert sind. Man muss auch schauen, was mit der Justizreform in Israel wird, denn hier versucht die Regierung ja auch die Justiz mehr unter ihre Kontrolle zu bringen. Das sind Tendenzen, die die Demokratie massiv schwächen könnten. Israel steht aber international – aus meiner Sicht – nicht besonders am Pranger.

     

    „Im Grunde sind die USA also an Stabilität interessiert.“

     

    Der damalige deutsche Außenminister Joschka Fischer hat 2003 in einem Interview mit der Frankfurter Rundschau sinngemäß gesagt: Wenn die USA den Irak angreift und Saddam Hussein stürzt, wird die gesamte Region destabilisiert. Ist genau das passiert?

    Die USA hat zweifelsohne eine Mitverantwortung für die Entwicklung im Nahen Osten. Es ist eine Tatsache, dass dieser Krieg damals unter falschen Voraussetzungen geführt wurde. Deutschland hat sich zurecht herausgehalten und Joschka Fischer hat langfristig recht bekommen. Viele Probleme, die jetzt dort bestehen, insbesondere im Irak, sind dadurch geschaffen worden. Natürlich war der Irak vorher auch keine Demokratie.

    Wie wichtig ist Israel für die USA als Verbündeter?

    Die USA wollen gute Beziehungen mit dem gesamten arabischen Raum. Mit Saudi-Arabien beispielsweise sind gute Beziehungen angestrebt. Ein Problem ist immer Iran. Aber auch mit dem Iran will man eigentlich zu einer Vereinbarung kommen, erstens wegen der Rohstoffabhängigkeit und zweitens, weil die Gefahr besteht, dass geopolitisch von diesem Raum noch weitere Probleme ausgehen. Im Grunde sind die USA also an Stabilität interessiert. Die bedingungslose Unterstützung Israels durch die USA beflügelt dann natürlich auch radikale Kräfte in Israel. Wenn man sich vorstellt, dass es hier Kräfte gibt, die die Vertreibung der Palästinenser aus dem Gazastreifen anstreben und die USA nichts anderes dazu zu sagen haben, als dass sie dort eine palästinensische Riviera einrichten wollen, dann ist das schon eine Komplizenschaft, die problematisch ist.