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Auf normativem Auge blind

Neue Enthüllungen bestätigen: China wirft seine muslimische Minderheit massenhaft in unmenschliche Lager. Die EU schweigt trotzdem weiter.
China
Foto: Pixabay

Investigative Journalistinnen und Journalisten enthüllen Skandale, um die Machenschaften, die dahinterstecken, zu beenden. Egal, ob es um Korruption geht, um Steuerhinterziehung oder Fake News- Enthüllungen sollten von der Politik überprüft werden und, stellen sich die Beweise als wahr heraus, Konsequenzen folgen. Dies gilt umso mehr, wenn dabei die Würde des Menschen verletzt wird. So wie im Fall der grausamen und systematischen Menschenrechtsverletzungen, die vor wenigen Tagen von den China Cables enthüllt wurden. Die vom International Consortium of Investivative Journalists (ICIJ) enthüllten Dokumente berichten über die Umerziehungslager in China‘s autonomer Provinz Xinjiang, in der über eine Million Uiguren und andere turkischsprachige Muslime (z.B. Kasachen) ohne legalen Prozess gefangen gehalten, und ideologisch „umerzogen“ werden. 

Bereits vor Jahren drangen erste Stimmen über diese Lager nach außen, und darüber, wie immer mehr Menschen in Xinjiang plötzlich verschwanden. Menschenrechtsorganisationen fingen an darüber zu reden, wie China systematisch eine ganze ethnische und religiöse Gruppe unterdrücke, Journalistinnen und Journalisten schrieben Reportagen über die menschenunwürdigen Zustände der Lager, ließen ehemalige Gefangene davon erzählen, wie sie gefoltert wurden, pausenlos bewacht, von ihren Familien isoliert und gezwungen, Treue für die kommunistische Partei Chinas zu schwören.  

Enthüllte Dokumente berichten über die Umerziehungslager in China‘s autonomer Provinz Xinjiang, in der über eine Million Uiguren  ohne legalen Prozess gefangen gehalten, und ideologisch „umerzogen“ werden

Bis Ende 2018 bestritt China die Existenz solcher Lager, dann gab die Regierung sie zu, sprach aber von harmlosen Schulungsprogrammen, in der die uighurische Minderheit gegen islamische Radikalisierung sensibilisiert werden sollte. Die internationale Gemeinschaft konnte es sich bis dato also leisten, die Geschichten der Verfolgten als bloße Einzelfälle und Gerüchte abzutun. 

 

 

Schwarz auf Weis: China hällt massenhaft Uiguren in Lager gefangen

Die jüngsten Enthüllungen aber bestätigen die systematische Repression und Folterung einer ethnischen Minderheit vonseiten chinesischer Autoritäten: Ein Dokumente wurde von internen Quellen Chinas kommunistischer Partei geleaked und den investigativen Journalisten übergeben. Daneben wurden Zeugenaussagen von über vierzig Uiguren in zehn Ländern und Menschenrechtsorganisationen zusammengetragen, von 17 Medien aus 14 Ländern überprüft, sowie von regionalen Experten und Linguisten analysiert und als authentisch bestätigt. Darunter Adrian Zenz, deutscher Ostasienwissenschaftler, der bereits seit 2018 zum Thema recherchiert, indem er chinesischsprachige Quellen aufarbeitet. Laut ICIJ bezeichnete Zenz den Umgang mit den Uiguren in Xinjiang als „probably the largest incarceration of ethno-religious minorities since the Holocaust“.

Der Umgang mit den Uiguren in Xinjiang gilt für Experten als „probably the largest incarceration of ethno-religious minorities since the Holocaust“.

Was in China passiert, liegt der Öffentlichkeit schwarz auf weiß vor Augen. Jetzt kann die Welt nicht mehr wegschauen. Und doch tut sie es. Zwar hat eine Gruppe von 23 Staaten bereits im Juli dieses Jahres eine Stellungnahme an das Menschenrechtskomitee der Vereinten Nationen geschickt, in der Chinas Vorgehen kritisiert wird. Jedoch unterstützen weder Italien noch Österreich, Portugal, Spanien, und etliche östliche EU Mitglieder diese öffentliche Erklärung gegen die Verbrechen, die China an über einer Million Menschen und deren Familien aus der eigenen Bevölkerung begeht. Dementgegen stellten sich nun 54 UN-Mitglieder hinter China: Staaten wie Russland, Saudi-Arabien und Nord-Korea reichten als Gegenreaktion eine Erklärung an das Komitee der UNO ein, in der China für seine „bemerkenswerten Errungenschaften“ im Bereich der Menschenrechte gelobt wurde. Gemeint ist damit die Bekämpfung von Terrorismus, die laut Peking in diesen „Schulungszentren“ in Xinjiang vorangebracht wird.

 

 

Es war zu erwarten, dass autoritäre Länder wie Pakistan, Nigeria oder Ägypten, China rechtfertigen und zuerst an ihre wirtschaftlichen Interessen denken. Doch Akteure wie die EU, die sich Menschenrechte auf die Fahne schreiben und den Friedensnobelpreis erhalten haben, dürfen nicht wegschauen angesichts solcher Massenverbrechen. Spätestens beim Stichwort Holocaust und Massenlager sollten in der EU die Alarmglocken schrillen. Doch es scheint so, als klingele für viele Politiker Europas das Geld lauter.

 

Zuerst das Geld, dann die Menschenrechte?

Dass in Italien Pragmatismus und wirtschaftliche Interessen an erster Stelle stehen, haben wir spätestens seit Berlusconis Flüchtlings-Deal mit dem lybischen Diktator Ghadhafi verstanden. So bleibt auch diese italienische Regierung der außenpolitischen Linie treu, und Forschungsminister Lorenzo Fioramonti trifft sich diese Woche mit Vertretern in Peking zum Forum Italia e Cina sull’Innovazione, um den Ausbau bilateraler Beziehungen zu besprechen. Ein Feld, auf dem die Kooperation ausgebaut werden soll: Technologie und Künstliche Intelligenz. Dass Überwachungstechnologien in China omnipräsent sind und für ebenjene Repression der Uiguren verwenden werden, blendet Rom gekonnt aus.

Umso wichtiger ist es, dass die europäische Ebene sich nun einschaltet. Der moralische Anspruch der Union leidet seit Jahren darunter, dass die EU zu sehr mit anderen Problemen in ihrem Inneren beschäftigt ist. Paradoxerweise schafft dieser Schwenk von normativem Handeln hin zu purem Pragmatismus noch mehr interne Probleme, denn er enttäuscht Anhänger einer werteorientierten EU, und spielt somit dem anti-EU Lager in die Hände. 

Spätestens beim Stichwort Holocaust und Massenlager sollten in der EU die Alarmglocken schrillen. Doch es scheint so, als klingele für viele Politiker Europas das Geld lauter

Die Europäische Union befindet sich an einem Punkt ihrer Geschichte, der entscheidend ist für ihr Bestehen. Die EU kann es sich nicht mehr leisten, ungeeint und mit doppelten moralischen Standards auf globaler Bühne aufzutreten, in der Hoffnung, ihre Bürger würden darüber hinwegsehen. Die Phase des Verzeihens ist ausgeschöpft, die neue Kommission befindet sich auf Bewährungsprobe. Länder wie Russland oder der Türkei warten nur darauf, dass Brüssel diese letzte Chance verbaut und ihren moralischen Führungsanspruch gänzlich wegwirft. Was bliebe dann aber von der europäischen Identität noch übrig? Welches Recht auf Kritik hätte die EU dann noch, wenn Russland oder die Türkei internationales Recht brechen? Welche Glaubwürdigkeit bliebe der EU als internationaler Akteur? 

Der EU-Binnenmarkt ist der größte Wirtschaftsraum der Welt, und somit ein Trumpf, mit dem die EU Demokratisierung fördern kann. Ihre Stärke und Berechtigung als internationaler Akteur kann die EU nun beweisen, indem sie zeigt, wofür sie diesen Trumpf einsetzt: Für die Befriedigung eigener Wirtschaftsinteressen mit blindem Auge für Menschenrechtsverletzungen, oder dafür, Grenzen zu setzen, wenn ein schwarzes Kapitel der europäischen Geschichte sich zu wiederholen droht, auf anderen Teilen der Welt?

Das Vorgehen Chinas gegen die ethnisch-religiöse Minderheit der Uiguren sollte daher in erster Linie von der gesamten EU in einer gemeinsamen Erklärung aufs schärfste verurteilt werden. Es sollte aber nicht bei symbolischem Geplänkel bleiben. Es muss ein internationales Untersuchungskomitee in der Region Xinjiang gefordert werden. Bis dahin sollte sich die EU ernsthaft überlegen, ob sie ihre Beziehungen mit China tatsächlich ausbauen will, oder ob nicht doch wirtschaftliche Sanktionen eine angemessenere Aktion wären. Spätestens beim Gipfeltreffen im Dezember, bei dem die EU entscheiden muss, ob der Auftrag für Europas Anschluss an das 5G Netzwerk an China gehen soll oder an europäische Anbieter, kann die EU beweisen, dass aus ihr kein unmoralisches Wirtschaftsmonster geworden ist, sondern dass die EU immer noch auf einer Werteunion beruht und ihre Interessen dort aufhören, wo systematische Repression und Verunmenschlichung von Millionen chinesischer Bürger anfängt. Denn davon hängt auch das interne Fortbestehen der EU ab. Wie heißt es so schön: „Eine Demokratie ist nur so gut wie ihre Journalisten.“ Doch wenn sie ihre Journalisten, egal wie gut ihre Enthüllungen, ignoriert, dann sieht die Zukunft dieser Demokratie nicht sehr rosig aus.