„Machtverhältnisse erforschen“
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Barbara Gross hat vor kurzem den „Junior Research Award Südtirol/Alto Adige 2023“ erhalten. Die 36-jährige Erziehungswissenschaftlerin forscht und lehrt im Bereich der interkulturellen Pädagogik an der Fakultät für Bildungswissenschaften der Freien Universität Bozen sowie seit 2022 als Juniorprofessorin an der Technischen Universität Chemnitz.
SALTO: Frau Gross, mit Verlaub – was ist interkulturelle Pädagogik überhaupt?
Barbara Gross: Bei der interkulturellen Pädagogik geht es um Erziehung und Bildung unter Bedingungen gesellschaftlicher Heterogenität und Diversität. Wir schauen auf verschiedene Dimensionen wie beispielsweise Migrationserfahrungen, Sprache, Religion, Aussehen, Geschlecht, sexuelle Orientierung und sozioökonomischer Status. Dabei geht es nicht nur darum, Diversität als Ressource zu sehen, sondern auch darum, soziale Dynamiken und Machtverhältnisse zu erforschen. Die interkulturelle Pädagogik versucht zunehmend, benachteiligende Faktoren in Bildungs- und Erziehungsprozessen aus einer intersektionalen Perspektive zu betrachten. Intersektionalität tritt auf, wenn verschiedene benachteiligende Merkmale in einem Individuum zusammenwirken und dadurch eine neue Form der Diskriminierung entsteht.
„Wenn Menschen selbst in keiner privilegierten Lage sind, fühlen sie sich häufig benachteiligt.“
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Interessieren Sie sich dabei nur für Bildungsinstitutionen wie Kindergärten und Schulen?
Gegenstand unserer Forschung ist nicht nur die Bildung und Erziehung von Minderjährigen, sondern auch die formelle und informelle Bildung von Erwachsenen beispielsweise an Universitäten, durch tägliche Erfahrungen am Arbeitsplatz oder durch den Konsum von Medien. Wir sehen heute eine Pluralisierung der Diversitätsdimensionen, wir werden sozusagen immer diverser, auch im Hinblick auf verschiedene Lebensformen und Meinungen, das führt zu einer Polarisierung der Gesellschaft. Wenn wir an geopolitische, ökologische und gesellschaftliche Entwicklungen denken, brauchen wir gerade heute Initiativen, die sozialen Frieden und das Zusammenleben verschiedener Personen stärken.
„Sprache ist eine soziale Praxis, sie prägt das menschliche Denken und schließlich das Welt- und Selbstverständnis.“
Im politischen Diskurs ist hier häufig eine Neiddebatte zu beobachten, da der Spracherwerb für Kinder mit Migrationshintergrund zusätzliche Ressourcen beansprucht.
Wenn Menschen selbst in keiner privilegierten Lage sind, fühlen sie sich häufig benachteiligt. Deswegen ist der Ansatz der Diversitätssensibilität, der sich nicht nur auf den sogenannten Migrationshintergrund beschränkt, hilfreich. Eine weitere Diversitätsdimension ist ja der sozioökonomische Status. Wir haben auch Familien ohne Migrationshintergrund, die zusätzliche finanzielle Ressourcen benötigen und gleichermaßen Familien mit Migrationserfahrungen, die über ein hohes ökonomisches Kapital verfügen. Deshalb braucht es ein breiteres Konzept und Verständnis von Inklusion, um alle Kinder gleichermaßen zu fördern. Das eine schließt das andere nicht aus. Wir müssen eher versuchen, Ressourcen so einzusetzen, dass wir insgesamt Barrieren abbauen können.
Haben Sie sich aus persönlichen Gründen für die interkulturelle Pädagogik entschieden?
Ich habe mich bereits in meiner Jugend gefragt, wie verschiedene Diversitätsmerkmale und ihnen zugrundeliegende soziale Dynamiken das Alltagsleben von Heranwachsenden in Südtirol beeinflussen. Ausgangspunkt war damals das Südtiroler Schulsystem, der Fokus lag auf der sprachlichen Diversität und dem Erlernen der sogenannten Zweitsprache. Ich habe mich gefragt, wieso es in Südtirol so schwierig ist, die jeweils andere Sprache, also Deutsch oder Italienisch, zu erlernen, wie Zugehörigkeiten geschaffen werden und welche Auswirkungen das auf das Leben einzelner Menschen hat. Oft verhindern systemische Gegebenheiten, dass Menschen ein Zugehörigkeitsgefühl entwickeln, und schaffen stattdessen Differenzen und Ungleichheiten.
Sind wir also durch das Schulsystem dazu prädestiniert uns als „Deutsche“ oder als „Italiener*innen“ zu fühlen?
Das kann man aus wissenschaftlicher Perspektive so pauschal nicht sagen, denn es haben viele verschiedene Faktoren einen Einfluss auf das Zugehörigkeitsgefühl. Sprache ist eine soziale Praxis, sie prägt das menschliche Denken und schließlich das Welt- und Selbstverständnis. Sie ist somit zentral für die interkulturelle Pädagogik. In Gesellschaften und auch in Bildungssystemen bestehen sprachliche Hierarchien, d.h. dass den Sprachen von Menschen – wenn auch vielfach implizit – ein unterschiedlicher Wert beigemessen wird. Es besteht daher ein latenter Zusammenhang zwischen Sprache und Machtverhältnissen.
Inwiefern?
Wer bestimmt, welche Sprachen als wichtig angesehen und in einem bestimmten Kontext vermittelt werden? Welche Amtssprachen werden verwendet? Welche Sprachen dürfen im schulischen Kontext im Unterricht aber auch in den Pausen verwendet werden? Wir können in der Südtiroler Gesellschaft mit den hier lebenden autochthonen Sprachgruppen – aber nicht nur – vielfach eine lebensweltliche Mehrsprachigkeit beobachten. Diese Diversität wird aber in Bildungsinstitutionen nicht immer optimal als Ressource genutzt, um interkulturelle und mehrsprachige Kompetenzen zu fördern.
„Wenn Schüler*innen immer wieder das Gefühl haben, nicht Teil der Gruppe zu sein, dann prägt das auch ihr Selbstverständnis.“
Braucht es im Südtiroler Bildungssystem zusätzliche Ressourcen, um der Sprachenvielfalt gerecht zu werden?
Wir brauchen insgesamt zusätzliche Ressourcen, um der Diversität in Bildungsinstitutionen gerecht zu werden. Wir sehen auch bei der Studie, die wir derzeit in Chemnitz (Stadt im deutschen Bundesland Sachsen, Anmerkung d. R.) durchführen, dass die Sensibilität für Diversität bei ausgebildeten Bildungsakteur*innen in Schulen vorhanden ist. Situationen des schulischen Alltags werden dann aber nicht immer für Lernprozesse genutzt, um Diskriminierung und Rassismus zu thematisieren und Benachteiligungen entgegenzuwirken. Das kann wiederum zur Reproduktion von Stereotypen führen.
Was müsste also passieren?
Die Ergebnisse der teilnehmenden Beobachtungen und Interviews zeigen, dass die höhere Partizipation von Schülerinnen und Schülern die pädagogische Beziehung fördert. Eine positive pädagogische Beziehung dient als Basis und ist von Wertschätzung, Respekt und Empathie gekennzeichnet. Wenn Fälle von Diskriminierung, Rassismus und Zuschreibung auftreten, dann trägt jede Bildungsakteurin und jeder Bildungsakteur Verantwortung. Hier braucht es koordinierte Bestrebungen auf verschiedenen Ebenen. Nicht nur die einzelne Lehrperson oder die Schulführungskraft sind dafür zuständig, sondern es sollten alle gleichermaßen beteiligt werden und sich verantwortlich fühlen.
Im Fanzine von Kseniia Obukhova erklären Südtiroler Schüler*innen mit Migrationshintergrund, dass sie Schwierigkeiten haben, ein Zugehörigkeitsgefühl zu entwickeln.
Fremd- und Selbstzuschreibungen bedingen sich gegenseitig. Wenn Schüler*innen immer wieder das Gefühl haben, von anderen nicht anerkannt zu werden, nicht Teil der Gruppe zu sein, dann prägt das auch ihr Selbstverständnis. Zugehörigkeiten werden in Institutionen geschaffen oder eben nicht geschaffen. Wir sehen in verschiedensten Studien immer wieder, dass Schüler*innen mit Migrationshintergrund diese Erfahrungen machen.
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Ich habe als junger Mensch einige Zeit in Genf gelebt. Ich habe nie darunter gelitten, dass ich - trotz passabler französischer Sprachkenntnisse mit Genfer Akzent - nicht als Genfer wahrgenommen wurde. Ich war aber sehr erfreut und dankbar, dass man mich als Tiroler, der in der Republik (und Kanton) Genf lebt, akzeptiert hat.
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Wenn ein Bauernland wie Südtirol glaubt sogenannte Wissenschaftler anstelle von Kellner, Elektriker oder Monteure hochleben zu lassen, ist man definitiv auf dem falschen Weg.
Wenn also in Zukunft Einwanderer jene Jobs verrichten, die langfristig für eine Volkswirtschaft effektiven Mehrwert bedeuten, darf man sich nicht beschweren, dass die eigene Bevölkerung dem Niedergang entgegensieht.
Das ist die Bubble.
Das ist die Bubble.
Südtirol hat viel zu spät…
Südtirol hat viel zu spät damit begonnen die Facharbeiter + Spezialisten aus zu bilden, um die jetzt geplärrt wird.
Auf der anderen Seite hält man für Arbeiten die auch zu tun sind, die Mitarbeiter zu Bedingungen / Entlohnung, dass sie nur mit der durch Steuergeld alimentierten Arbeitslosen-Unterstützung auf einen Jahreslohn kommen, von dem sie leben können.