Istanbul im Kriegszustand
Seit dem 1. Mai 1977 gedenken die türkischen Gewerkschaften der 30 Menschen, die bei der damaligen Arbeiter-Kundgebung am Taksim-Platz in Istanbul ums Leben kamen. Während Gewerkschafter damals ihre Reden hielten, schossen Scharfschützen vom Dach eines Hotels in die versammelte Menge .
Bis heute sind die Urheber nicht gefasst worden. Die Erinnerung an dieses Massaker ist aber noch nicht verblasst. Sie bekam Aufwind, als vor drei Jahren am selben Platz junge Menschen von der Polizei getötet und schwer verletzt wurden, weil sie gegen den Bau eines Einkaufszentums im Gezi-Park protestierten. Dieser Park ist ein Teil des Taksim-Platzes.
Weil am 7. Juni in der Türkei Parlamentswahlen stattfinden und weil die absolute Mehrheit der regierenden AKP-Partei abzubröckeln beginnt, wurden die 1. Mai-Kundgebungen heuer zu einer besonders erbitterten Machtprobe zwischen Demonstranten und der Polizei. Die Innenstadt wurde mit hohen Drahtzäunen hermetisch abgeriegelt - der Hersteller dieser mobilen Absperrungen muss ein steinreicher Mann geworden sein.
Foto: Ivan Sottile
Von Galata über das Stadtviertel Pera wurde die Haupteinkaufsstrasse Istiklal Caddesi mit sämtlichen Nebenstrassen und Gässchen bis zum Taksim- Platz abgesperrt. Und überall wurden die Absperrungen von hunderten Polizisten bewacht. Als wir am Donnerstag Abend unsere Bekannten in ihr Hotel am Taksim-Platz begleiten wollten, wurden wir zurückgeschickt. Alles war schon abgesperrt. Die Hotelgäste hatten bereits am Vortag in den Zimmern eine Mitteilung vorgefunden, die vor gewaltsamen Zusammenstössen in Hotelnähe warnte.
Ich selbst wohne in einer Strasse in Cihangir, die steil bergauf direkt auf den Taksim-Platz mündet. Zweimal versuchte ich, durchzukommen. Es war unmöglich. Frustrierte Jugendliche und Studenten begannen am Nachmittag, vor den bewachten Absperrungen Happenings abzuhalten: mit Musik, Ballspielen und Picknicks wollten sie beweisen, dass sie sich vertreiben und wegschicken lassen.
Einer kleinen Gruppe von Demonstranten war es am Freitag Vormittag gelungen, trotz des kolossalen Polizeiaufgebots auf den Taksim-Platz zu gelangen und dort rote Fahnen auszurollen. Wenig später wurden sie gewaltsam entfernt. Nur einer offiziell abgesegneten Gewerkschaftsdelegation war es erlaubt worden, vor dem Kriegerdenkmal einen Kranz niederzulegen.
Foto: Ivan Sottile
Um die Polizei auszutricksen, versammelten sich die Demonstranten gegen Mittag in Besiktas, einem Viertel, das direkt am Bosporus liegt. Dort kam es zu Strassenschlachten. Knüppel und Tränengas – das übliche Anti-Terror-Programm der Polizei – kamen zum Einsatz. Es gab viele Verletzte und zahlreiche Festnahmen.
Staatspräsident Erdogan, der sich letzthin immer häufiger in seinem 1000-Zimmer-Palast verschanzt, wies die Kritik am Vorgehen der Polizei zurück: Der Staat wolle nur verhindern, dass sich ein Massaker wie 1977 wiederhole. Wer "symbolisch" demonstrieren wolle, der könne dies tun, erklärte Erdogan. "Symbolisch"? Diese Form der Demonstration ist neu, fast schon originell – und auf die Türkei zugeschnitten.
Foto: Ivan Sottile
Nicht nur Polizisten bewachten die Stadt sozusagen zu Land. Dutzende von Kriegsschiffen und Fregatten der Küstenwache patrouillierten am 1. Mai seit dem Morgengrauen zwischen Bosporus und Goldenem Horn. Ein Szenario wie im Krieg, das angesichts der relativ wenigen Demonstranten an Hysterie grenzt.
Doch geht es bei dieser Demonstration von militärischer Macht nicht nur um die 1. Mai-Kundgebungen. Erdogan fürchtet, dass seine Partei bei den Wahlen die absolute Mehrheit verliert. Damit wäre sein Traum geplatzt, sich durch eine Verfassungsreform mit zusätzlicher Macht auszustatten, die den Regierungschef in den Schatten stellt.
Das Projekt Erdogans hat innerhalb der AKP Unruhe und Streit ausgelöst. Es gab auch schon offene Meinungsverschiedenheiten zwischen dem Staatspräsidenten und seinem ehemaligen Kronprinzen, dem derzeitigen Ministerpräsidenten Ahmet Davutoglu. Denn in der Regierungspartei sind die Machtgelüste des Staatspräsidenten nun an ihre Grenzen gestossen.