Società | Forschung

"Beide Geschlechter profitieren von Gendermedizin"

Rosmarie Oberhammer ist als Ärztin und Schmerztherapeutin von der Gendermedizin fasziniert. Frauen verharmlosen oft ihre Schmerzen, "ihre Schmerzschwelle ist niedriger."

Frau Oberhammer, womit beschäftigen Sie sich in der Schmerztherapieforschung?
Rosmarie Oberhammer: Ich bin eine vorwiegend klinisch tätige Anästhesistin, Intensivmedizinerin, Notärztin und Schmerztherapeutin und habe mich sehr intensiv mit dem Thema Gendermedizin und ganz speziell mit dem Thema Schmerz im Gendervergleich beschäftigt.

Was fasziniert Sie an der Gendermedizin?
Gendermedizin beschäftigt sich nicht nur mit dem medizinischen Standardpatienten, dem jungen, athletischen 70 Kilogramm Mann, sondern mit den Unterschieden zwischen Frauen und Männern, die für das Erkennen und die Behandlung von verschiedenen Erkrankungen wichtig sein können. So wurde beispielsweise an einer groß angelegten Studie mit fast 40.000 Frauen getestet, ob Acetylsalicylsäure (ASS), der Wirkstoff von Aspirin, auch bei Frauen eine ebenso markante Verminderung der Herzinfarktrate hat, wie bei Männern. Erstaunlicherweise konnte bei Frauen keine wesentliche Reduktion von Herzinfarkten erzielt werden. Bei der „Männerstudie“ konnte die Herzinfarktrate um ca. 40% reduziert werden. Die Rate an Schlaganfällen konnte unter der Einnahme von ASS reduziert werden. Die Gründe dafür sind nur zum Teil geklärt.

Was möchten Sie am 10. Oktober beim 2. Symposium "Frauengesundheit - Gendermedizin" in Bozen vermitteln?
Gendermedizin ist keine Medizin nur für Frauen. Sowohl Männer wie Frauen profitieren davon, wenn die Gründe für Unterschiede zwischen den beiden Geschlechtern und den in der Gesellschaft wahrgenommenen Rollen erkannt werden.

„Wenn Frauen Schmerzen haben, suchen sie meist früher als Männer ärztliche Hilfe.“ Ein Vorteil, möchte man meinen, da eine frühzeitige Behandlung oft rascher zur Linderung der Beschwerden führt. Doch dem ist meistens nicht so. Denn sitzen Frauen dem Arzt oder der Ärztin gegenüber, tendieren die meisten dazu, das Ausmaß ihrer Schmerzen zu verharmlosen. Männer hingegen warten länger zu, ehe sie einen Arzt aufsuchen, aber wenn sie einmal dort sind, sagen sie auch eher konkret, was Sache ist und fordern eine entsprechende Behandlung. Mehr lesen Sie hier.

Bei vielen Krankheiten zeigen Frauen und Männer unterschiedliche Symptome. Können Sie das an einem Beispiel ausführen?
Nehmen wir den Herzinfarkt als Beispiel her. Die klassischen Symptome sind natürlich bei beiden Geschlechtern, bei Frauen und bei Männern, gleich. Der hinter dem Brustbein auftretende und in den linken Arm ausstrahlende brennende drückende Schmerz ist hochgradig verdächtig für einen akuten Herzinfarkt. Aber wer denkt schon bei Kiefer- oder gar Zahnschmerzen oder bei Oberbauchschmerzen gleich an einen Herzinfarkt? Von diesen wenig typischen Schmerzorten bei akuten Herzinfarkten sind vorwiegend Frauen betroffen. So gehen Frauen nicht selten zum Zahnarzt oder kommen wegen anhaltenden Unterkieferschmerzen in die Notfallaufnahme. Der geschulte Arzt und die geschulte Ärztin werden an einen Herzinfarkt denken und diesen mittels EKG und Laboruntersuchungen zu bestätigen oder auszuschließen wissen, der Unerfahrene wird den akuten Herzinfarkt differentialdiagnostisch gar nicht in Erwägung ziehen. Damit können dem Patienten und v.a. der Patientin erhebliche Nachteile durch Verzögerung im Erkennen und damit in der Therapie entstehen. Erfreulicherweise wurde in den letzten Jahren durch gezielte Schulungen eine gewisse Sensibilisierung zum Wohle der Patientinnen erreicht.

Frauen leiden generell häufiger unter (fast!) allen Arten von Schmerzen als Männer. Sie weisen zudem eine höhere Schmerzsensitivität und eine niedrigere Schmerzschwelle auf. Zusammengenommen erklärt dies, warum Frauen auch häufiger unter chronischen Schmerzen leiden. Schreibt die Deutsche Schmerzgesellschaft e.V.

Auch die Verträglichkeit von Medikamenten ist bei Männern und Frauen unterschiedlich
Ja. Morphin ist ein auch heute noch viel genutztes Schmerzmedikament. Laut einiger Studien soll es eine erhöhte Neigung zu Übelkeit und Brechreiz bei Frauen bewirken. Die Autoren schlußfolgerten, dass die geringere Dosis an Morphin zur Behandlung des akuten Schmerzes nach chirurgischen Eingriffen auf die erhöhte Wirkung bei Frauen zurückzuführen sei. Dabei wurde völlig außer Acht gelassen, dass Frauen, wenn sie sich selbst über eine Spritzenpumpe in festgesetzten Zeitintervallen eine kleine Menge an Morphin verabreichen können, aufgrund der einsetzenden Nebenwirkungen auf „zu häufige“ Dosen verzichten. Die Daten sprechen für einen rascheren Wirkeintritt von Morphin bei Frauen, sodass vermutlich auch die Nebenwirkungen häufiger auftreten. Es werden aber zusätzliche Studien benötigt, um diese Fragen zu klären.

Trotzdem werden Frauen, alte Menschen und Kinder bei Studien zur Medikamentenzulassung zu wenig oder gar nicht berücksichtigt.
Aufgrund der Conterganaffäre wurden Frauen im gebärfähigem Alter keine „neuen“ Medikamente mehr verordnet. Kein Pharmakonzern wollte durch den Einschluss von Frauen im sensiblen Alter in Medikamentenzulassungsstudien ähnlich katastrophale Folgen riskieren. Damit wurden ganz bewußt Frauen ausgeschlossen. Die Medikamentenzulassungsbehörden sehen mittlerweile einen Einschluss von Frauen vor, allerdings wird dies nicht immer wahrgenommen.

Wer denkt schon bei Kiefer- oder gar Zahnschmerzen oder bei Oberbauchschmerzen gleich an einen Herzinfarkt?

Wie anders empfinden Frauen?
Frauen haben eine niedrigere Schmerzschwelle, wenn nur schmerzhafte Einzelreize im Experiment gesetzt werden. Hier hängt es aber auch von der Art des gesetzten Schmerzreizes und auch vom Hormonstatus der Frau ab. Interessant ist, dass bei Verlängerung des Schmerzreizes und bei Wiederholung der Schmerzreize in kurzen Intervallen Schmerzen von Frauen besser toleriert werden. Vermutlich haben Frauen bessere Copingstrategien, d.h. Frauen können besser mit Schmerzen umgehen wie Männer, auch wenn im Experiment Schmerzeinzelreize von gleicher Stärke schlechter toleriert werden.

 Interessant ist, dass bei Verlängerung des Schmerzreizes und bei Wiederholung der Schmerzreize in kurzen Intervallen Schmerzen von Frauen besser toleriert werden. Vermutlich haben Frauen bessere Copingstrategien,

Gibt es eine entwicklungsgeschichtliche Erklärung dafür?
Es scheint einen Sinn zu ergeben, entwicklungsgeschichtlich. Frauen sind für die Nachkommen verantwortlich. Wenn sie möglichst rasch einzelne Schmerzreize wahrnehmen, dann können sie sich selbst und ihre Kinder vor weiterer Schädigung schützen. Vor der Geburt wird das körpereigene Schmerzverarbeitungssystem so verändert, dass die Schmerzhemmung hochgefahren wird um eine Geburt weniger schmerzintensiv zu erleben. Männer profitierten wohl als Jäger, wenn sie auf der Flucht vor einem Raubtier schmerzhafte Einzelreize wie etwa eine Wunde an einem Bein als nicht so schmerzhaft wahrnahmen.

Was bedeutet das für das ärztliche Personal und das Pflegepersonal? Braucht es nicht eine rasche Sensibilisierung in diesem Bereich um für mehr Patientensicherheit zu sorgen?
Mittlerweile haben viele medizinische Universitäten Gendervorlesungen in ihren Lehrplan aufgenommen. So etwa die medizinische Universität Innsbruck, wo seit einigen Jahren eine Ringvorlesung zu gendermedizinisch relevanten Themen angeboten wird. Damit werden bereits Studentinnen und Studenten in die Thematik eingeführt.

Und wo stehen wir in Südtirol?
2007 hat das Assessorat für die Ausbildung des Gesundheitspersonals mit der Organisation des 1. Fachsymposiums Gendermedizin in Südtirol erste Weichen für die Sensibilierung von Fachpersonal in unserem Gesundheitswesen gesetzt. Im Assessorat ist ebenfalls eine Gender-Health-Stelle unter der Leitung von Dr.in Evi Schenk eingerichtet worden. In der „Virtuellen medizinischen Bibliothek“, die ebenfalls vom Assessorat betreut wird, gibt es eine eigene Seite, die der Gendermedizin gewidmet ist.

Nun soll aber einmal mehr sensibilisiert werden?
Mit der Organisation des 2. Südtiroler Fachsymposiums Gendermedizin  -diesmal mit dem Schwerpunktthema Schmerz- wird die Sensibilisierungskampagne weitergeführt. Erstmalig wird das Thema am Nachmittag auch einer breiteren Öffentlichkeit  vorgestellt. Ein erster Vortrag zum Thema „Empfinden Frauen Schmerzen anders“? wurde für die interessierte Bevölkerung bereits in der ersten Jahreshälfte in Margreid abgehalten. Seit Jahren werden immer wieder Vorträge für medizinische Laien zum Thema „Schlagen Frauenherzen anders? Ein Streifzug durch die Gendermedizin“ im Zusammenarbeit mit dem Landesbeirat für Chancengleichheit und Frauenbüro angeboten.
Ja, es wird vermehrt aufmerksam gemacht. Es gilt das Wissen aber weiter zu vertiefen und immer wieder daran zu erinnern.

 

Das Symposium "Was ist Gendermedizin und wie wirkt sie sich auf die Behandlung von Patienten und Patientinnen aus"? findet am 10. Oktober von 14.15 bis 18 Uhr statt. Ort: Palais Widmann, Landhaus 1. Anmeldungen beim Frauenbüro erbeten: 0471/416 951