Società | Interview

“Absolut nicht menschenwürdig”

Das Flüchtlingslager Moria auf Lesbos wird als “das schlimmste der Welt” bezeichnet. Sarah von Grebmer zu Wolfsthurn berichtet von ihrem Besuch vor Ort.
Moria auf Lesbos
Foto: UNHCR

Die Bilder gehen seit Tagen um die Welt. Am Sonntag kam im Flüchtlingslager Moria auf der griechischen Insel Lesbos eine Mutter und ihr Kind ums Leben. Daraufhin kam es in der überfüllten Unterkunft zu Unruhen. Die Lage vor Ort hat sich noch nicht beruhigt.
Sarah von Grebmer zu Wolfsthurn war im Mai auf Lesbos, auch in der Gegend um Moria, von dem sie meint: “Es könnte tatsächlich das schlimmste Flüchtlingslager in Europa sein.”
Im Interview berichtet die Pfalznerin über ihren Besuch in Einrichtungen für Geflüchtete.

salto.bz: Frau von Grember zu Wolfsthurn, wie sind Sie dazu gekommen, Flüchtlingseinrichtungen zu besuchen?

Sarah von Grebmer zu Wolfsthurn: Die Gelegenheit bot sich während einer Trainingswoche auf Lesbos. Ich bin gerade im ersten Jahr meines Forschungsdoktorats in Psycho- und Neurolinguistik an der Universität Leiden in den Niederlanden und arbeite an einem Projekt, das Teil eines größeren länderübergreifenden Projekt zum Thema Mehrsprachigkeit – Multimind – ist.
Zwischendurch finden Seminare statt, wo sich Doktoranden, Dozenten und Vertreter der EU treffen, und Kurse, Präsentationen, Workshops abgehalten werden. Für so ein Treffen bin ich im Mai nach Lesbos gereist. Auf dem Programm standen Besuche in Flüchtlingseinrichtungen, genauer gesagt in einer Schule, einem Camp und einer weiteren Schule in unmittelbarer Nähe eines Flüchtlingslagers.

Was haben Sie während Ihres Aufenthalts auf Lesbos gesehen?

Zunächst haben wir die Schule Mosaik besichtigt, die von der Nicht-Regierungsorganisation Lesvos Solidarity geleitet wird. Mosaik wurde vor ca. drei Jahren gegründet und dient auch als Unterstützungszentrum für Migranten im weiteren Sinn. Es ist ein Ort, wo Menschen sich einfach treffen und austauschen können. Außerdem werden dort Computerkurse, Hilfe bei legalen Angelegenheiten, Gitarrenunterricht und Literaturworkshops angeboten, Filme gezeigt, Gedichte vorgetragen, wobei auch die Öffentlichkeit mit einbezogen wird. Es kommen ca. 800 Leute regelmäßig täglich aus den Camps in der Nähe.

In einem solchen waren Sie auch.

Genau. Der zweite Stopp war das Camp Pikpa, das von derselben NGO geleitet wird und nur fünf Kilometer vom Flughafen entfernt liegt.

In Pikpa war es schwer, sich nicht wie ein Zoobesucher zu fühlen.

Welches Bild hat sich Ihnen dort geboten?

Als wir hinein gingen, wirkte es im ersten Moment sehr ruhig. Man hätte nicht gedacht, in einem Flüchtlingscamp zu sein, weil man aus den Medien ganz andere Bilder kennt. Pikpa besteht vorwiegend aus Holzhütten, umgeben von Wald, es ist nicht umzäunt und es gibt verschiedene Orte, wo die Bewohner zusammenkommen können, zum Beispiel eine Glaskuppel, unter der Unterricht, Tanz- oder Malkurse stattfinden. Es ist relativ klein, mit ungefähr 150 Bewohnern, und ein Camp für Flüchtlinge in besonders schwierigen Situationen, zum Beispiel Familien mit Neugeborenen, Menschen mit psychischen Krankheiten oder Behinderungen, Angehörige der LGBTQ-Community, die in gewöhnlichen Camps in Gefahr gewesen wären. Drei Freiwillige haben uns erklärt, wie der Alltag ausschaut.

Und zwar?

In Pikpa hat jede Familie eine eigene Holzhütte mit Kochstelle, was leider Gottes etwas sehr Besonderes ist. Zum Einkaufen gehen sie auf den örtlichen Markt, was natürlich die Begegnung mit den Einheimischen fördert. Insgesamt versuchen die Freiwilligen in Pikpa, der Öffentlichkeit das Camp und dessen Bewohner nahe zu bringen und den Kontakt zu fördern. Da wir so eine große Gruppe waren, haben wir allerdings nicht wirklich Bewohner getroffen, bis auf ein paar Kinder, die neugierig waren und auf uns zukamen.
Dann sind wir noch zu einer anderen Schule gefahren, direkt neben dem Flüchtlingslager Moria.

Diese Menschen riskieren alles, um nach Europa zu kommen und sich dort ein besseres Leben aufzubauen, und landen dann an so einem Ort...

Welchen Eindruck hatten Sie von der Einrichtung?

Es handelt sich um ein Auffanglager. Flüchtlinge, die im Hafen aufgegriffen werden, werden festgenommen und kommen nach Moria, wo der ganze Papierkram erledigt werden soll. Moria ist schon von außen unglaublich anzugucken. Auf dem Weg dorthin sieht man ein Meer von Containern und Zelten, umgeben von Maschendrahtzaun. Mich hat es gleich an die Favelas in Rio de Janeiro erinnert, irgendwie auch an ein Gefängnis. Angesehen haben wir uns dort aber nicht das Camp selbst, sondern eine Container-Schule, die unmittelbar daneben von einem Griechen gebaut wurde, der kurzerhand etwas für die Bildungsmöglichkeiten der Campbewohner tun wollte. Dort gibt es regelmäßigen Englischunterricht und auch die Möglichkeit, mit bereitgestellten Nähmaschinen Kleidung zu reparieren.
Die Atmosphäre in der Schule war schon recht fröhlich und geschäftig. Wir konnten uns dort eine Englischstunde ansehen, was für uns auch beruflich interessant war, weil das Ausarbeiten von Verbesserungsvorschlägen zur Bildungspolitik in Europa, speziell für Kinder und Erwachsene mit Migrationshintergrund, ein wichtiger Teil von Multimind ist. Im Klassenzimmer gab es eine Tafel und Bänke, die Lehrerin war eine junge, hochschwangere Frau aus Afghanistan. Die Kinder in der ersten Reihe haben wirklich mitgemacht, aber ansonsten gab es viel Chaos, weil einige Kinder ständig rein-und rausrannten. Es war laut und wirkte nicht wie ein idealer Rahmen, um schnell und gut lernen zu können. Die Lehrerin hat natürlich ihr Bestes gegeben.

 

Hatten Sie Gelegenheit, mit Campbewohnern zu sprechen?

Die Lehrerin und ein junger Mann haben sich bereit erklärt, mit uns zu sprechen. Beide lebten zu dem Zeitpunkt in Moria, sie seit acht Monaten, er seit vier. Sie erzählten uns, dass in dem Camp für dreitausend Menschen sechstausend untergebracht wären, und dass bis zu fünf Familien in einem Container zusammenleben müssen: Menschen allen Alters, Frauen, Männer, auf engstem Raum ohne Privatsphäre, ohne gar nichts. Auch ohne psychologische Unterstützung, obwohl die Leute Dinge erlebt haben, die niemand erleben sollte. Alle sind auf die tägliche Essensausgabe angewiesen, wo es ständig Streitereien und Kämpfe um das Essen gibt. Es herrschen extrem schlimme sanitäre Zustände, im Winter gibt es teilweise nicht einmal warmes Wasser, keine Heizung, Strom fehlt auch oft. Einige NGOs weigern sich mittlerweile im Lager zu arbeiten, und versuchen, Unterstützung von außen zu leisten, um ein Zeichen zu setzen. Eine weitere, enorme Belastung für die Campbewohner sind die extrem langsamen und langwierigen Asylantragsprozesse. Das liegt zum Teil daran, dass es viel zu wenig Personal gibt zur Bearbeitung der ganzen Anträge. Aber der Ablauf selbst sieht beispielsweise auch drei Interviews pro Person vor, um festzustellen, ob jemand den Flüchtlingsstatus verdient. Unsere Gesprächspartner hatten beide jeweils ein Interview, und das nächste voraussichtlich erst irgendwann 2020.

Die Eindrücke des Tages haben uns total erschöpft und ganz still werden lassen.

Deckt sich Ihr kurzer Eindruck von Moria mit der Aussage in einem BBC-Video, in dem es als “das schlimmste Flüchtlingslager der Welt” bezeichnet wurde?

Wenn ich bedenke, was ich über andere Camps weltweit gelesen habe, kann ich mir nicht vorstellen, dass Moria das schlimmste ist, auch wenn es absolut nicht menschenwürdig ist. Aber das schlimmste in Europa könnte es tatsächlich sein.

Wie haben Sie sich an dem Tag als Besucherin gefühlt?

In Pikpa war es schwer, sich nicht wie ein Zoobesucher zu fühlen, weil man durch das Zuhause von anderen Menschen spazierte. Aber in unserer Gruppe waren wir uns soweit einig, dass es gut ist, wenn wir so etwas sehen, um danach darüber berichten zu können. In der Schule bei Moria hat uns der Kontrast zwischen unserem Leben und dem der Campbewohner sehr traurig und wütend gemacht. Wir als privilegierte Europäer haben alle Jobs und Möglichkeiten, bekommen jeden Monat unser Gehalt und konnten nach den Besuchen wieder zurück in unser Hotel mit Restaurantküche und warmem Wasser. Während andere in einem Camp sitzen, Tag für Tag, mit ihrem Potential, ihren Talenten und Leidenschaften, und nichts daraus machen können. Die Eindrücke des Tages haben uns total erschöpft und ganz still werden lassen. Das weitere akademische Programm für den Abend wurde deshalb auch abgesagt.

Einige NGOs weigern sich mittlerweile im Lager zu arbeiten, und versuchen, Unterstützung von außen zu leisten, um ein Zeichen zu setzen.

Welche Eindrücke sind Ihnen am meisten in Erinnerung geblieben?

In Pikpa war es die Tatsache, dass sich das Camp in einer nicht endenden existentiellen Krise befindet, weil es von Spendengeldern getragen wird und auf von Woche zu Woche neu entschieden werden muss, wie gewirtschaftet werden kann. Die Bewohner und Freiwilligen müssen immer damit rechnen, dass das Camp geschlossen wird. Als wir dort waren, war klar, dass sie es mit den Spenden noch sechs Wochen schaffen würden – alles danach war ungewiss.
Die Freiwilligen habe ich persönlich für ihre tägliche Arbeit sehr bewundert, vor allem bei den ständigen Geldsorgen. Ich war aber mit einigen Dingen, die sie gesagt haben, nicht einverstanden. Es klang manchmal so, als würden die Freiwilligen ihre eigenen politischen Einstellungen über das Wohlbefinden der Bewohner stellen. 
Von der Schule bei Moria sind mir die Erzählungen von den schlimmen alltäglichen Zuständen geblieben. Das muss man sich mal vorstellen: Diese Menschen riskieren alles, um nach Europa zu kommen und sich dort ein besseres Leben aufzubauen, und landen dann an so einem Ort. Und dass es so einen Ort in Europa überhaupt geben kann! Für mich ist es unverständlich, dass Griechenland oder die EU so etwas zulassen, weil es für mich bedeutet, dass Campbewohner nicht als Menschen wie wir gesehen werden, mit ihren individuellen Geschichten.

Sie haben die politischen Einstellungen von Freiwilligen genannt, die Sie problematisch finden, können Sie ein Beispiel nennen?

Das waren gewisse Aussagen die sehr Anti-Regierung und Anti-EU waren, wegen ihrer Migrationspolitik. Ich hatte Zweifel, ob da die Zusammenarbeit nicht darunter leiden könnte.

Hat Sie irgendetwas positiv überrascht?

Es war sehr schön zu sehen, wie viele Leute sich in ein Projekt oder eine Aufgabe stürzen, sobald sie eine Gelegenheit haben. Ich denke da zum Beispiel wieder an die junge Afghanin, die sich gesagt hat: “Ich weiß nicht, was die Zukunft für mich bringt, ich bin schwanger, und mein Englisch ist nicht perfekt, aber ich nutze die Zeit und stelle mich vor eine Klasse, um das weiterzugeben, was ich kann.”

Bild
Profile picture for user Karl Trojer
Karl Trojer Gio, 10/03/2019 - 09:35

Im Umgang mit Flüchtlingen braucht Europa dringend eine Kehrtwende : 1. Menschen auf der Flucht müssen menschengerecht aufgenommen und versorgt werden, es müssen ihnen Aus-und Weiterbildungsmöglichkeiten angeboten werden, ihre Integration in Arbeitsplätze muss ohne bürokratische Hindernisse erfolgen können. 500Mio EU-Bürger dürfen vor 1Mio Flüchtlingen/Jahr (= 2 promille) nicht in Panik verfallen (was Populisten wir Salvini ecc anstreben).
2. Europa muss in den Herkunftsländern der Flüchtlingen dringend für Frieden sorgen, durch know-how-Transfer von Mittel-u.Kleinbetrieben dazu beitragen, die örtliche Wirtschaft weiterzuentwickeln, und massiv ins örtliche Bildunsgsystem investieren.
3. Europa muss vor Ort regionale Kreisläufe fördern und wo nötig, auch inizieren.

Gio, 10/03/2019 - 09:35 Collegamento permanente
Bild
Profile picture for user gorgias
gorgias Gio, 10/03/2019 - 20:31

In risposta a di Karl Trojer

>3. Europa muss vor Ort regionale Kreisläufe fördern und wo nötig, auch inizieren.<

Europa muss aufhören regionale Kreisläufe durch Exportsubventionen zu zerstören. Solche zu fördern und initiieren ist strukturell nicht möglich, weil es dann nicht mehr regionale Kreisläufe mehr sind.

Gio, 10/03/2019 - 20:31 Collegamento permanente
Bild
Profile picture for user Franz Linter
Franz Linter Gio, 10/03/2019 - 21:28

In risposta a di gorgias

Vor Ort regionale Kreisläufe zu fördern ist prinzipiell richtig. Die Umsetzung allerdings schwierig, weil die Förderung meist eine Mitsprache impliziert und dadurch eine fremde Denke einfließt, die viele regionale Initiativen kaput gefördert haben. Initieren ist deshalb noch problematischer. Ehrliche Auskunft von einer Caritas-Mitarbeiterin bei einem Treffen an der Uni in Brixen.

Gio, 10/03/2019 - 21:28 Collegamento permanente
Bild
Profile picture for user Karl Trojer
Karl Trojer Gio, 10/03/2019 - 09:40

Jeder / jede von uns kann Flüchtlingen, die in seinem Umfeld leben, Hilfe sein : durch Freundlichkeit, durch Hilfe bei bürokratischen Erledigungen, durch Sprachhilfen, durch Hilfe bei Suche von Wohnung und Arbeitsplatz. Gute zwischenmenschliche Beziehungen sind das A und O jedes Wohlbefindens.

Gio, 10/03/2019 - 09:40 Collegamento permanente
Bild
Profile picture for user 19 amet
19 amet Gio, 10/03/2019 - 10:15

Die übliche Frage der rechten Hinterwäldler. Dabei lesen sie nicht einmal was der Andere schreibt. Herr Trojer hat geraten den Flüchtlingen bei der Wohnungssuche zu helfen, nicht sie zu Hause aufzunehmen. Wenn er in einer 3 ZimmerWohnung wohnt, wo soll er sie unterbringen. Sagen Sie doch mal Kunze. Im Keller, im Dachboden oder im Bad ? In Zukunft zuerst lesen und dann plodern.

Gio, 10/03/2019 - 10:15 Collegamento permanente