Cultura | Reise-Lese-Buch

Der Himmel über Gröden

Vor wenigen Tagen wurde den "Toten Hosen" der Staatspreis ihrer Herkunftsgegend verliehen. Die Laudatio kam von Regisseur Wim Wenders. Und was hat das mit Gröden zu tun?
Martin Hanni
Foto: Martin Hanni
  • Für ihre „laute Stimme gegen Fremdenfeindlichkeit und rechte Gewalt“, hieß es anlässlich der Verleihung des Staatspreises von Nordrhein-Westfalen an die Punkband aus Düsseldorf Die Toten Hosen, am 30. Oktober. Laudator Wim Wenders (ebenfalls aus dem Rheinland) meinte, dass der Erfolg der Band darin begründet liege, dass es ihr um Erfolg nie gegangen sei. 
    Wie auch immer: Wim Wenders und Die Toten Hosen sind Düsseldorfer Ur-Gesteine. Es gab immer wieder Zusammenarbeiten, etwa beim Videoclip: Warum werde ich nicht satt, wo Wenders Regie führte, oder Jahre zuvor beim Song Auflösen mit der österreichischen Schauspielerin Birgit Minichmayr. Dass die Lebenslinien von Wim Wenders und "Hosen" auf wundersame Weise auch einmal ins Grödental führten ist famos, denn tatsächlich machten sie (unabhängig voneinander) in Gröden von sich reden: der legendäre Regisseur mit einem Foto 2015, die legendäre Band mit einem Rauswurf 1989. 
    Aus guten Grund also zwei kurze Erzählungen aus dem vor kurzem im Folio Verlag erschienenen Reise-Lese-Buchs: OH! Südtirol

  • Skihosen und Skihasen

    Einheimische, Zweiheimische, Gastheimische: Geläufige und vergessene, überraschende, smarte und abstruse Geschichten von Gästen und Einheimischen: über eine halbe Brücke und warum ihr Planer ganze Arbeit geleistet hat, über Riesen-Hotels und Fake-Zwerge, Ferienhäuser, Frühlingstäler, Unter- und Übergänge, begnadete Stars und visionäre Sterne, aufgemalte Narren oder einsame Sessellifte... SALTO-Kulturredakteur Martin Hanni serviert 37 Geschichten und feines Bildmaterial. Foto: Folio

    In Gröden füttern engagierte Angehörige der alten rätoromanischen Kultur die Enzyklopädie-Plattform Wikipedia akribisch mit Wissen und bauen am Kulturgedächtnis des Tales. Andere tüfteln an der für 2031 geplanten alpinen Ski-WM. Aber wer sich nicht benimmt, fliegt raus! Bei Wikipedia und aus Gröden. 
    Im Januar 1989 mussten die Skihasen der Düsseldorfer Band Die Toten Hosen nach Après-Ski, Party und Konzert innerhalb von 24 Stunden den Skiort Wolkenstein verlassen. Darauf angesprochen meinte Sänger Campino einige Jahre später „Daran kann ich mich gar nicht mehr erinnern: Erinnern kann ich mich aber an eine gewisse Sella-Runde mit Zeitnehmungsstrecke“. Wer sich erinnert, war nicht dabei, heißt es. „Beim Skifahren selbst ist ja nie etwas passiert, aber es kann sich schon mal einer den Arm brechen, weil er vom Tisch gefallen ist“, meinte Campino, dessen Künstlername ähnlich tönt wie die Gegend Ciampinëi an der WM-Abfahrtspiste Saslong mit Ziel im benachbarten Ort St. Christina. Erhalten hat sich jedenfalls ein Foto im Archiv der Band, auf dem die bunte, auffällig gekleidete Truppe beim Skifahren in Gröden für ein schrilles Foto in Ciampinëi posiert. Was Campino bei Ciampinëi und in Wolkenstein mit seinen Kollegen angestellt hat, ist möglicherweise nicht für die Öffentlichkeit bestimmt. Die Düsseldorfer mussten jedenfalls ihre Sachen packen und waren dahin. Wenige Jahre später reisten sie wieder zum Skifahren in Südtirol an und rockten eine kleine Hütte im Skiort Vals, ein paar Berge und Pisten weiter.

  • Tage wie diese: Campino fliegt in die Zuschauermenge bei einem Konzert in den Alpen. In Gröden flog er mit Bandkollegen aus dem Tal. Foto: Martin Hanni
  • Damit die Menschen in Zukunft – in Gröden und weltweit – sich nicht nur an die Toten Hosen, sondern auch an das Ladinische erinnern, wagten einige Talbewohnerinnen und -bewohner vor einigen Jahren den Sprung – von den berüchtigten Kamelbuckeln der Saslong – ins Internet, auf Wikipedia. Wolfgang Moroder ist einer von ihnen. Bereits Mitte der 1990er war er einer der Pioniere mit einer eigenen Website und später mit einer Ultraschall-Aufnahme eines gähnenden Fötus kurz Internetstar. Der passionierte Arzt begann in seiner Muttersprache für die Online-Enzyklopädie zu schreiben und lud Bilder, Texte, Film- und Tondokumente zu Kultur und Natur auf die Plattform, auch zum bekannten Lokalpoeten Max Tosi, einer der großen ladinischen Dichter, obwohl er gar nicht aus der Gegend kam, sondern aus dem unweit gelegenen, ebenfalls ladinischsprachigen Teil des Friauls. 
     

    Ob Tosi, Hasi oder Hosi – vielleicht kommen die Toten Hosen irgendwann als Senioren-Truppe ins künstlerisch wie finanziell durchaus herausfordernde Tal...


    Für seine schriftstellerische und poetische Freiheit wurde er im Tal geschätzt, wie das heute wichtige Zentrum für kulturelle Veranstaltungen und Gegenwartskunst Tublà da Nives in Wolkenstein. Der Ort hat sich zu einem fixen Treffpunkt für Einzel- und Kollektivausstellungen bildender Künstlerinnen und Künstlern etabliert und bietet diverse Aktivitäten, mitunter auch zu sprachlichen Besonderheiten. Der Name Tublà da Nives meint übersetzt Schneehütte und versetzt hier jeden kulturinteressierten Ski- oder Schneehasen in helle Freude. Gegenüber dem modernen Kunstbau liegt das alte Ciampinëi mit viel Kunstschnee im Winter. 
    Ob Tosi, Hasi oder Hosi – vielleicht kommen die Toten Hosen irgendwann als Senioren-Truppe ins künstlerisch wie finanziell durchaus herausfordernde Tal, um sich urige Pistenerlebnisse in Erinnerung zu rufen, um Bommerlunder zu schmettern und sich neben dem lokalen Minderheiten-Speech, den inzwischen im Tal durchaus geläufigen Begriff Overtourism live vor Ort in Ciampinëi oder im Ziel der WM-Piste Saslong in St. Christina zu vergegenwärtigen.

  • Fluchtpunkt Gröden

    Wim Wenders, Roman Polanski und Luis Trenker haben zweifellos Filmgeschichte geschrieben. Auch in Gröden. Genauer in St. Ulrich, wo alle drei ganz nebenbei „flüchtige“ Spuren hinterlassen haben. So brachte Sharon Tate mit Polanski 1966 den Minirock ins Tal, Trenker 1956 seinen Drehbuchkollegen Pier Paolo Pasolini und Wim Wenders 2015 ein Foto.

  • Fotoarbeit (mit Notiz) in der Traube: Wim Wenders mit einer Fotografie im 1. Stock des Wirtshauses Traube in St. Ulrich. Foto: Franz Mussner
  • Mit einem auszustellenden Foto tauchte Filmregisseur Wim Wenders 2015 im Gasthaus Traube in St. Ulrich auf. Das Himmelblau über dem Tal an diesem Tag war für den Himmel-über-Berlin-Regisseur sichtlich kein Problem. Seine Fotoarbeit hatte er im Rahmen einer Parallelintervention zur Fotoschau seiner Frau Donata Wenders installiert – nur für den engsten Kunstkreis, im alten Gasthaus mit schrulligem Kneipencharakter. Seine Frau zeigte ihre Fotokunst im Rahmen der Ausstellung Vanishing Point im strengen Glanz einer Handwerkshalle in Pontives, den Galerieräumen von Doris Ghetta. Gezeigt wurden flüchtige Eindrücke, die zum Fluchtpunkt mutieren – ganz im Sinne des Galeriegedankens.
     

    Bis heute hält sich in Gröden das Gerücht, dass Tate es war, die als erste den Minirock ins Tal brachte. 

  • Flüchtiges Kennenlernen: Kulturjournalist Stefan Nicolini, Regisseur Wim Wenders und Kinomann Martin Kaufmann 2015 bei der Ausstellung "Vanishing Point" in der Galerie Doris Ghetta. Foto: Martin Hanni

    Für einen Fluchtpunkt in (und später aus) den Dolomiten, entschied sich sechzig Jahre vor den Wenders die Ikone des sozialkritischen italienischen Films, Pier Paolo Pasolini (1922–1955). „Trenker è simpatico, le montagne intorno anche“, lobte der damals junge Pasolini den Altmeister und die Berge in einem Brief, als er sich zum Drehbuchschreiben für den Spielfilm Flucht in die Dolomiten im Sommer 1955 im Haus Trenker in Gröden aufhielt. Das freundliche Verhältnis zwischen beiden verschlechterte sich rasch, zu unterschiedlich waren Gemüter und Ansichten. Am Ende gab es den Film in zwei sehr unterschiedlichen Fassungen. Die italienische Fassung geht in Richtung Film noir, die deutsche Fassung hebt Berge und das Melodram hervor. Nach der wenig fruchtbaren Zusammenarbeit verabschiedete sich Pasolini aus Gröden, vielleicht sogar mit der alten Grödner Bahn, die – kurz vor ihrer Stilllegung – in den Streifen der beiden grundverschiedenen Filmgrößen verewigt wurde.
    Mit der Schauspielerin Sharon Tate (1943–1969), die wie Pasolini später ermordet wurde, flüchtete Roman Polanski 1966 nach St. Ulrich. Nachdem er Teile seiner Horrorkomödie Tanz der Vampire ursprünglich nördlich des Brenners drehen wollte, mussten die 6-wöchigen Dreharbeiten zum Filmklassiker kurzfristig nach Südtirol verlegt werden. Polanski mietete sich samt Filmtruppe in einigen Hotels und Pensionen in St. Ulrich ein. 

  • Zeitgenössische Kunst: Nassim Azarzar mit The Edge of the Forest am alten Hotel Ladinia Foto: Nassim Azarzar

    Er selbst logierte im Hotel Adler, anfänglich auch seine spätere Frau Sharon Tate. „Wegen des Medienrummels und der Schaulustigen bevorzugte sie allerdings das etwas ruhigere Hotel Regina, welches damals von meinen Großeltern geführt wurde und in dem ich aufgewachsen bin“, erzählt der Filmemacher und Präsident des Museums Gherdëina, Matthias Höglinger. Bis heute hält sich in Gröden das Gerücht, dass Tate es war, die als erste den Minirock ins Tal brachte. Und das auch noch im Winter. Für seinen Tanz in Gröden fand Polanski mehrere Drehorte, einer davon war unmittelbar unterhalb der Bergstation der Seilbahn von St. Ulrich zur Seiser Alm, wo auch die Szene gedreht wurde, in welcher der bucklige Diener die Vampirjäger auf ihrer Flucht verfolgt. Schon wieder ein Fluchtpunkt! Es soll in St. Ulrich noch haufenweise weitere geben. Einer etwa wird alle zwei Jahre zur Augenweide, wenn sich während der Biennale Gherdëina das historische Hotel Ladinia kunstvoll verwandelt.