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Tatverdächtige Entschlüsselungen

Die Künstlerinnen Karin Ferrari und Lee Nevo entschlüsseln mit „Fingerspitzengefühl“ kollektive Symbole in der Gefängnisgalerie in Kaltern.
Karin Ferrari
Foto: SALTO
  • Vor kurzem eröffnete die Ausstellung "Fingerspitzengefühl" zweier Künstlerinnen in den Räumlichkeiten der kleinen Gefängnisgalerie in Kaltern. Eine von ihnen ist Karin Ferrari. Dass sie „Verschwörungen“ in Videoclips bekannter Künstlerinnen aufdeckte, war bekannt. Nicht aber, welche "Verschwörungen" sie in Ihren Malereien und in den kruden Mauern eines ehemaligen Gefängnisses verstecken würde. 

  • Gemeinsamkeiten?: Die Künstlerinnen Lee Nevo und Karin Ferrari lernten sich bei der Moskau Biennale for Young Art 2016 kennen. Nun stellen sie in Kaltern aus. Foto: SALTO
  • Das Wort Verschwörungen sei „etwas irreführend“, meint Karin Ferarri auf Nachfrage von SALTO und präzisiert: „Inspiriert von gegenkulturellen YouTube-Videos begann ich in den 2010er Jahren an meiner experimentellen Mystery-Doku-Fictionserie DECODING THE WHOLE TRUTH zu arbeiten.“ Darin interpretiert sie die Symbolik in Popmusikvideos und anderen Bildern der globalen Medienkultur und behauptet, „versteckte Botschaften aufzudecken“. Ihre Parallelerzählungen, die sie dem Originalmaterial überstülpt, „sind teils nachvollziehbar, teils übertrieben, und führen sich oft selbst ad absurdum“, so die Künstlerin. Es ist die Kunst der weiterführenden Erzählung anhand vorgegebener Bilder. Besonders spannend finde sie dabei „den Kontrast der Kombination von Welten, die normalerweise nicht zusammen gedacht werden: Altägyptische Sonnensymbolik in einem Popmusikvideo? Mittelalterliche Alchemie in einem iPhone-Werbevideo? Das Allsehende Auge im Nachrichtenintro der ZiB?“ Als Künstlerin interessiere sie „welche Vergangenheiten in der Gegenwart wirken“, insbesondere „mystische Fantasien und Sehnsüchte, die oft verborgen im Konsummatierialismus, Technologie und unserer gebauten Umwelt wirken.“ Der Reiz dieser Arbeiten liege für sie „u.a. in eben diesen Kontrasten, auch zwischen digitaler Ästhetik und dem unmittelbaren Duktus der Hand.“ 
     

    Verschwörungen gibt es in meinen Malereien direkt keine. Dafür Utopien, Distopien, Machtstrukturen...

  • Titelfindung: Lee Nevo hat den Titel „Fingerspitzengefühl" vorgeschlagen. Sie hat den Begriff während einer Artist Residency in Düsseldorf aufgeschnappt und sich als möglichen Ausstellungstitel gemerkt. Foto: SALTO

    Vor allem sei für Karin Ferrari die Tatsache faszinierend, dass sich das Wort „digital" vom lateinischen Wort für „Finger" (digitus) herleite, ein Fakt, den sie gern in ihren Arbeiten vermittle und auch zum Titel dieser Ausstellung passe. Wieviel Fingerspitzengefühl steckt in ihrer Kunst? „In meinen Videoarbeiten zeichne ich Animationen, Texte und Diagramme direkt mit dem Finger am Trackpad und lege sie über das originale Bildmaterial. Umgekehrt versuche ich in meinen grafischen Werken mit der Hand digitale Artefakte auf Papier und Leinwand zu imitieren“, erzählt sie und legt offen: „Verschwörungen gibt es in meinen Malereien direkt keine. Dafür Utopien, Distopien, Machtstrukturen, Energiemaschinen, WiFi-Boards, Bitmap-Alchemie und Xerox¬Mythologie. Mein Werk ist eine merkurielle Trickster-Show, welche die kreative Macht des Geistes feiert, Sinn und Unsinn zu schaffen.“
     

    Es könnte tatsächlich sein, dass ich mütterlicherseits, weit entfernt, mit Carl Gustav Jung verwandt bin...


    Das "Doppelmoppel"-Konzept der Galerie Gefängnis Le Carceri in Kaltern gibt es seit nunmehr einigen Jahren. Es hat sich bewährt und erlaubt der Kunst eines Künstlers oder einer Künstlerin, eine weitere Position dazu zu laden. Ferrari entschied sich für Künstlerin Lee Nevo, die sie 2016 bei Moskau Biennale for Young Art kennengelernt hatte. „Ich habe dort eine Interpretation eines Musikvideos von Katy Perry gezeigt, während Lee ihre Arbeit über Shanks gezeigt hat - das sind Gebrauchsgegenstände, die von Gefängnisinsassen zu Waffen umfunktioniert werden.“ Es sind Werke, „die sie in der Galerie Gefängnis in Kaltern zeigt“, erzählt Ferrari, „Fotografien selbstgemachter Waffen.“ Sie fügen sich gut in die historische Bausubstanz.

  • Gefährliche Zahnbürste: Der Titel „Fingerspitzengefühl" passt auf mehreren Ebenen perfekt zur Ausstellung und zu den Werkserien. Foto: SALTO
  • „Die Geschichte des Ortes ist sehr präsent und beinahe viszeral spürbar“, kommentiert Ferrari die Arbeiten ihrer Kollegin. Die gezeigten „Waffen“ aus adaptierten Dingen wie etwa Kämmen, Zahnbürsten und Nägeln, wurden von Lee Nevo „originalgetreu kopiert“, während sie in anderen Fällen eigene Varianten entwickelte. Sie selbst meint dazu, dass es sich dabei um „eine Auseinandersetzung mit strategischer Kreativität, Subversion, Sabotage und Widerstand“ handle. Gegenwärtig belegt sie Kurse an der Universität zu Forensik und Jurisdiktion, um irgendwann „Zugang zu Originalobjekten von Gefängnisinsassen zu erlangen.“
    Im Gegensatz zu Lee Nevo hat Karin Ferrari eher „gegen den Raum gearbeitet“, wie sie sagt, um mit Fantasie und mittels der Kunstwerke „die Energie eines Ortes transformieren“ zu können. Während sich die Räume bei Lee Nevo eher minimalistisch daherkommen, arbeitet Ferrari mit „visueller und informativer Überforderung“, längs einer Hängung der Arbeiten, „in der die Bilder in einer Wolke aus Referenzbildern existieren.“ Ihr Denkprozess sei eben „visuell“, sagt sie, denn sie denke viel in Bildsequenzen. „Dass es sich um Bilderserien handelt, manchmal beinahe Bildfolgen und Panelraster wie in Comics, ist eine Weiterentwicklung meiner Arbeit als Filmemacherin.“ 

  • Künstlerische Zusammenhänge: Taktiler Intelligenz und Kreativität, sowie eine besondere Sensibilität im Umgang mit schwierigen Themen. Foto: SALTO
  • Was bleibt sind viele unerklärliche Dinge in der Gefängnisgalerie in Kaltern, die die beiden Künstlerinnen ausstellen, die viel vorgeben und gleichzeig nach weiteren und weiteren Erklärungen suchen. Vielleicht ähnlich der Entschlüsselung eines Traumes? „Ich erinnere mich, dass ich mit zehn Jahren in der Bibliothek meiner Mutter ein Buch über Traumdeutung gefunden habe“, erzählt Ferrari. In der Grundschule habe sie tatsächlich begonnen „auf eigene Faust, mithilfe dieses Traumlexikons meine Träume zu analysieren und zu verstehen.“ Sie erinnere sich noch genau an diese prägenden Erlebnisse. „Um meiner persönlichen Mystifikation noch eines draufzusetzen“, merkt sie passend zum Traumthema an: „Es könnte tatsächlich sein, dass ich mütterlicherseits, weit entfernt, mit Carl Gustav Jung verwandt bin.“ Na dann. 

  • Entschlüsselungen: "Es gebe immer eine Vielzahl an Bedeutungsebenen und Atmosphären, und ich glaube, es ist eine gewisse Freiheit möglich in der Entscheidung worauf man sich einlässt", meint Karin Ferrari. Foto: SALTO
  • Karin Ferrari künstlerisches Werk beschäftigt sich mit zeitgenössischen Formen von Spiritualität und Aberglaube. Dabei interessieren sie vor allem verborgene Sehnsüchte, die eigentlich mystischer Natur sind und die oft unerkannt in Konsumkapitalimus, Technologie und unserer gebauten Umwelt wirken. Sie hat Malerei und Kulturwissenschaften an der Akademie der Bildenden Künste in Wien studiert und arbeitet in vielen unterschiedlichen Medien.
    Lee Nevo (geboren in Jerusalem, lebt in Tel Aviv) hat mit Auszeichnung den MFA- Studiengang an der Bezalel Academy of Art abgeschlossen und besitzt einen BFA vom Fachbereich für Multidisziplinäre Kunst am Shenkar College. Nevos Praxis umfasst Installationen, Modelle, skulptierte Objekte, Drucke und Sound. Ihre Werke bestehen aus Szenografien, die als Vorschlag für eine mögliche Eskalation einer Situation, eines Experiments oder einer Handlung existieren. Nevo hat eine projektorientierte Praxis, bei der die Ortsbezogenheit und ihr historischer, architektonischer und kultureller Kontext oft das Wesen jedes Werks definieren.

    Die Ausstellung in der Galerie Gefängnis Le Carceri in Kaltern ist bis 3. Oktober zu sehen.