Gewalt im Alter
Frau Pirrone, welche Erfahrungen haben Sie mit dem Thema Gewalt gemacht?
Marcella Pirrone: Mich hat man 2012 mit der Koordination des Interreg-Projekts "Gewalt im Alter" beauftragt, weil ich ebenso wie meine Nordtiroler Kollegin Esther Jennings als Juristin und Rechtsanwältin oft mit dem Thema in Berührung komme. Seit 25 Jahren kenne ich die Gewalt in den Familien, ich betreue Frauen, die von ihren Männern misshandelt werden, und habe auch das Frauenhaus in Meran mitbegründet. Dass man irgendwann auf das Thema Gewalt im Alter stoßen würde, war unvermeidlich. Es ist ein Tabuthema das jetzt zum Vorschein kommt, einerseits durch die demographische Entwicklung - die Leute werden immer älter – und andererseits ist Gewalt als Phänomen in der Gesellschaft in den letzten Jahren stärker thematisiert worden.
Stehen wir beim Thema der Gewalt im Alter tatsächlich ganz am Anfang, war das bisher wirklich tabu?
Die Gewalt in der Familie, also im häuslichen Bereich wurde in den letzten Jahrzehnten thematisiert; dadurch kam auch die Gewalt gegen alte Menschen stärker zum Vorschein, wenn man bedenkt dass es nun eben Frauenhäuser gibt, wo misshandelte, auch alte Frauen, Schutz finden. Das Phänomen gibt es europaweit und es gibt noch dazu ein sehr große Dunkelziffer von psychischer oder physischer Misshandlung an alten Menschen. Unser Projekt soll sensibilisieren und informieren, es richtet sich an Private, an beruflich Verantwortliche, an Politiker. Wir wollen zeigen, dass Gewalt im Alter häufiger vorkommt als man glaubt, und es sind viele Aspekte zu berücksichtigen.
Wenn die Medien über Misshandlungen in Alten- oder Pflegeheimen schreiben, sind das dann die Spitzen, die an die Öffentlichkeit gelangen?
Der Pflegeberuf ist ein schwieriger, aber auch ein sehr befriedigender Beruf. Die Beziehung zu älteren Leuten ist reichhaltig und schön, und es kommt vieles von ihnen zurück. Ich bin überzeugt, dass die Pflege in der Regel gut ausgeführt wird. Wir wollen aber davon reden, dass es schief gehen kann, meist nicht mit irgendwelcher Absicht, sondern durch Überforderung etwa. Aufgrund von Krankheitsbildern bei älteren Menschen sehen sich die Pflegekräfte einigem Potential an Aggression und Gewalt gegenüber, alte Menschen sind eben auch aggressiv. Wir wollen aufzeigen, welche Risikofaktoren in der Pflege bestehen.
Was sind denn die Risikofaktoren, unter welchen Voraussetzungen kommt es zu Gewalt im Alter?
Wenn zum Beispiel Sparmaßnahmen dazu führen, dass Pflegepersonal und Zeiten verknappt werden, dann kann es sehr leicht zu einer Überforderung kommen. Das ist kein persönliches Manko oder die Unfähigkeit der Pflegekraft, sondern eine schwierige Aufgabe, der man sich nicht grenzenlos aussetzen kann. Vor allem Frauen, und es sind ja zum Großteil weibliche Pflegerinnen, tun sich oft schwer einzugestehen, dass sie Hilfe brauchen. Diese Frauen, die auch mehrheitlich in der privaten Pflege tätig sind, dürfen sagen, Moment, ich schaffe es nicht alleine, ich merke, dass ich nervös oder gereizt bin und ich brauche jetzt Hilfe. Denn es sind ja alle froh, dass sich jemand um den alten Menschen daheim oder in der Institution kümmert. Leider befürworten oft die Verhältnisse in den Heimen eine solche Überforderung. Denn die Effizienz steht nach wie vor im Vordergrund, und das legt die Basis für die strukturelle Gewalt, also ein Zwang, den die Turnusse, die getakteten Mahlzeiten und Stundenpläne vorgeben.
Wie schaut es mit der körperlichen Gewalt aus, steht das im Vordergrund?
Die physische Gewalt steht nicht im Vordergrund, es handelt sich eher um die psychische, die emotionale Gewalt, oder eben die strukturelle Gewalt in den Institutionen.
Wie hängt das Phänomen Gewalt mit dem zunehmenden Alter zusammen, hat ein gut geführtes Leben Auswirkung auf ein mehr oder weniger aggressives Verhalten im Alter?
Es ist richtig, gut alt werden hängt von der Lebensführung und der Einstellung ab, aber wenn man krank wird, wenn Demenz oder Alzheimer auftritt, auch körperliche Gebrechen zunehmen, dann sind Verhaltensveränderungen oft nicht mehr kontrollierbar. Als Laie ist sehr schwierig damit umgehen, und auch die Professionellen geraten an ihre Grenzen.
Also braucht es ein Instrumentarium?
Unser Hauptziel war es, für die Berufsgruppen die in der Pflege tätig sind, im sozialen wie gesundheitlichen Bereich, ein Schulungs- und Fortbildungskonzept mit Präsenz und als E-Learning-Material zu entwickeln. Das kommt den angehenden Pflegern in den Schulen wie auch den bereits im Beruf stehenden Kräften zugute. Eine Schule oder eine Institution wird ab Ende dieses Interreg Projekts (Herbst 2014) diese Schulungsmaterialien für eigene Fortbildungsinitiativen einfach von der Homepage (www.gewaltimalter.eu) herunterladen können, denn als EU-Projekt steht das Material allen zur Verfügung.
Welches sind die Signale, worauf sollten Pflegekräfte achten, um Gewalt im Alter zu erkennen?
Warnzeichen sind nicht allein Hämatome, die entstehen, wie wir wissen sehr leicht bei älteren Menschen. Als Gewaltexpertin kann ich sagen, das erste ist, die Bereitschaft zu denken und zu sehen, dass es Gewalt geben kann. Wenn ich ein Auge dafür entwickelt habe, sehe ich an der Verhaltensweise einer Person, ob etwas stimmt oder nicht. Die alten Leute sind ja auch in einer abhängigen Position, sie haben oft Angst und sind still, sagen also nichts. Oder sie sind einfach nicht mehr fähig, sich so auszudrücken, dass man versteht was Sache ist.
Wie wichtig ist denn der Gender-Aspekt in diesem Projekt?
Pflege ist weiblich, in den Berufen aber auch privat. Vielfach ist es die Frau, die in den Familien mit der Pflege alter Angehöriger belastet ist. Sie gibt einen Teil der eigenen Biografie auf, um für jemand anderen da sein zu können. Das führt zu ganz neuen Situationen, auch europaweit hat man das bereits erkannt. Denn auf diese Weise können Frauen sehr schnell in eine neue Armut rutschen; Frauen die vielleicht schon einmal für die Kinder daheim blieben, tun es nun wieder für ihre alten Eltern und sind wiederum nicht bezahlt, zahlen auch nichts in die Rentenkassen ein. Das ist ein sehr heikles Thema für die Gesellschaft in ganz Europa. Somit sind Frauen in einem gewissen Alter eine Risikogruppe für die Armut. Auch die „Badanti“ die zu uns kommen, riskieren diese Armut, auch sie haben hier keinen Rentenanspruch und in ihren Heimatländern ebenso wenig. Hier wird wieder einmal eine Pflegesituation die immer ärger wird, auf dem Rücken der Frauen ausgetragen.
An wen kann sich ein Pfleger oder eine Pflegerin wenden, wenn Hilfe nötig wird beim Thema Gewalt im Alter?
In Südtirol gibt es die Grüne Nummer zum Ortstarif: 800 001 800 („Grüne Nummer Notfall Senioren“). Sie wird vom Betrieb für Sozialdienste Bozen in Zusammenarbeit mit dem Land verwaltet. Bürger und Bürgerinnen die diese Nummer anrufen, erhalten weitere Aufklärung zum Thema und werden auch an die zuständigen Dienste weiter geleitet.