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Herrschaftsfreies Leben

Gibt es Alternativen zu den um sich greifenden Autokratien? Die neue Ausgabe der Zeitschrift Kulturelemente spürt dem edlen Ideal des Anarchismus nach. Ein Gastbeitrag.
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Foto: Salto.bz

Zuspruch für den Anarchismus als Ideal zu finden, ist nicht allzu schwierig. Ein herrschaftsfreies Leben, wer will das nicht? Die Skepsis beginnt, wenn es um die Verwirklichung geht. Der Anarchismus sei ein schöner Traum, heißt es da, eine Utopie, die sich nicht realisieren ließe. Die Menschen seien dazu nicht fähig, sie bräuchten Vorschriften und Regeln, zu viele würden sich sonst auf Kosten der Gemeinschaft ein bequemes Leben machen. Außerdem würde die Wirtschaft ohne finanziellen Ansporn brach liegen. Sicher wäre auch niemand mehr, der Menschen würde zu des Menschen Wolf, das Leben „ekelhaft, tierisch und kurz“, wie es Thomas Hobbes 1651 im Leviathan ausdrückte, einer der großen Legitimationsschriften des modernen Staates.
 

Es ist einfach, sich über den mangelnden praktischen Erfolg des Anarchismus lustig zu machen, doch es ist auch kurzsichtig.


Was ist dem aus anarchistischer Perspektive entgegenzuhalten? Wenig mehr als das praktische Beispiel. Behaupten kann man vieles, aber die Menschen haben das Recht, Dinge mit den eigenen Augen zu sehen. Doch was haben Anarchist*innen vorzuweisen?
Der Frage lässt sich nicht nachgehen, ohne das Untersuchungsfeld abzustecken. Wovon sprechen wir, wenn es um den Anarchismus geht? Verteidiger*innen des Anarchismus holen bei praktischen Beispielen gerne weit aus. Sie verweisen auf griechische Philosophen, die in Tonnen lebten, auf urchristliche Gemeinden und besonders gerne auf indigene Gesellschaften ohne Staat. Solche Verweise können durchaus interessant sein, für diesen Text sind sie jedoch unerheblich. Dass sich die Menschen, auf die hier verwiesen wird, nicht als Anarchist*innen verstanden, ist nur ein Problem. Das größere ist, dass Verweise dieser Art den Anarchismus mit der Abwesenheit des Staates gleichsetzen. Doch Anarchismus bedeutet nicht Staatenlosigkeit, sondern Herrschaftslosigkeit, was ein bedeutender Unterschied ist. Auch wenn der moderne Staat viele Herrschaftsformen in seinem politischen Machtmonopol konzentriert, lassen sich diese – etwa das Patriarchat oder der Eurozentrismus – nicht auf den Staat reduzieren.
Sucht man nach Verwirklichungen des anarchistischen Ideals, sollte man also dort beginnen, wo eine politische Bewegung unter dem Namen des Anarchismus auftritt. Das geschieht Mitte des 19. Jahrhunderts, als selbst-identifizierte Anarchist*innen den libertären Flügel der sozialistischen Bewegung bilden. Mit anderen Sozialist*innen teilen sie das Endziel einer klassenlosen Gesellschaft, erachten jedoch weder politische Organisationsformen wie Parteien noch staatliche Institutionen als taugliches Mittel, um dieses zu erreichen. Das führt zu Auseinandersetzungen in der sozialistischen Bewegung, die 1871 den Ausschluss der Anarchist*innen aus der Internationalen Arbeiter-Assoziation („Ersten Internationale“) zur Folge haben.
 


Als libertärer Flügel der sozialistischen Bewegung wird der Anarchismus gerne als ideologische Synthese aus Sozialismus und Liberalismus beschrieben. Es gibt Anarchist*innen, die diese Deutung ablehnen, da sie in ihren Augen dem Anarchismus seinen eigenen Charakter abspricht. Doch ideengeschichtlich ist die Beschreibung durchaus legitim. Sie ist auch relevant, wenn es um einen Überblick über die Versuche geht, den Anarchismus zu verwirklichen. Hier wurden historisch unterschiedliche Prioritäten gesetzt, je nachdem, ob das liberale oder das sozialistische Element überwog.
 

Von großer Bedeutung für die Geschichte des praxisorientierten Anarchismus sind anarchistische Schulprojekte.


Die bekannteste Form des „liberalen Anarchismus“ ist der sogenannte Individualanarchismus, in dem die unbedingte Freiheit des Individuums im Zentrum steht. Philosophischer Vorläufer dieser Strömung ist der Links-Hegelianer Max Stirner (Der Einzige und sein Eigentum, 1844), doch ihren stärksten praktischen Ausdruck erfuhr sie in den USA. Dort konstituierte sich um Benjamin Tuckers von 1881 bis 1908 herausgegebene Zeitschrift Liberty der Individualanarchismus als Bewegung. Nicht wenige Anhänger*innen etablierten Gemeinschaften, die an die Tradition utopischer Kommunen anknüpften, die in den USA zu Beginn des 19. Jahrhunderts gegründet wurden. Die bekannteste dieser war „Home“ im US-Bundesstaat Washington. Kommunismus wurde in diesen Kommunen nicht gepflegt, die persönliche Unabhängigkeit der Bewohner*innen stand über allem. In einem zeitgenössischen Bericht eines europäischen Besuchers, der mehrere dieser Kommunen aufsuchte, wird eine Bewohnerin zur Frage nach den nachbarschaftlichen Beziehungen wie folgt zitiert: „Wir haben keine. Wir lassen einander in Ruhe, deshalb sind wir hier.“
Die Idee, eigene Gemeinschaften zu gründen, ist für die anarchistische Geschichte prägend, weit über den US-Individualanarchismus hinaus. Gustav Landauer, einer der einflussreichsten Anarchist*innen Deutschlands, war ein großer Fürsprecher anarchistischer Siedlungen. Anfang des 20. Jahrhunderts entstanden in Deutschland einige Siedlungen in seinem Sinne, etwa „Freie Erde“ in der Nähe Düsseldorfs. Landauers Ideen hatten auch Einfluss auf die Kibbuz-Bewegung, wie James Horrox in seinem Buch Gelebte Revolution. Anarchismus in der Kibbuzbewegung dokumentiert. In jüngerer Geschichte stehen Hausbesetzungen und die Gründung anarchistischer Landkommunen wie jene auf der Burg Lutter in Niedersachsen in dieser Tradition.
Von großer Bedeutung für die Geschichte des praxisorientierten Anarchismus sind anarchistische Schulprojekte. Pädagogische Fragen waren für den Anarchismus immer zentral, schließlich sollte den negativen Einflüssen von Staat und Kapital früh entgegengewirkt werden. Eine zentrale Figur der anarchistischen Pädagogik ist Francisco Ferrer, 1909 von der spanischen Regierung als „anarchistischer Aufwiegler“ hingerichtet. Ferrer betonte die freie Entwicklung der kindlichen Persönlichkeit, die Kombination von Rationalität und Kreativität und das nicht-autoritäre Verhältnis zwischen Lehrer*innen und Schüler*innen. Er nahm viele der Ideen vorweg, die in den 1960er Jahren durch A.S. Neill und die Schule „Summerhill“ popularisiert wurden. 1901 gründete Ferrer in Barcelona die „Moderne Schule“, die zu einem Modell für viele ähnliche Projekte weltweit wurde. Die bekannteste ist jene in Stelton im US-Bundesstaat New Jersey, die von 1910 bis 1953 existierte.
 

Kompliziert wird es, wenn wir uns den jüngsten Beispielen zuwenden, auf die Anarchist*innen gerne verweisen, wenn es um Beispiele für anarchistische Gesellschaften geht, nämlich die autonomen Verwaltungsgebiete der Zapatistas im mexikanischen Bundesstaat Chiapas und der Kurd*innen in Rojava (Nordsyrien)


Auch die Genossenschaftsbewegung trägt viele anarchistische Züge und ist bis heute wichtig, wenn Anarchist*innen sich um den Aufbau ökonomischer Beziehungen bemühen, bei denen die Befriedigung kollektiver Bedürfnisse und nicht individuelle Gewinninteressen im Zentrum stehen. In US-Städten wie Madison, Wisconsin, ist die Bewegung so ausgedehnt, dass man seinen Alltag in ihr bewältigen kann: Apotheken, Tattoo-Studios, Fahrradläden, alles ist dabei, auch mit eigener Währung. In der anarchistischen Geschichtsschreibung wird manchmal auch auf das Schwundgeld verwiesen, das 1932 in Wörgl eingeführt wurde, obwohl dies unter einem sozialdemokratischen Bürgermeister, Michael Unterguggenberger, geschah. Doch als alternatives Währungssystem, das das Horten von Reichtum verhindert und die lokale Wirtschaft stimuliert, übt das Schwundgeld auf Anarchist*innen seinen Reiz aus. Das Prinzip ist einfach: Je länger man sein Geld behält, desto mehr verliert es an Wert.
Im „sozialen Anarchismus“ standen nicht alternative Lebensformen relativ kleiner Gemeinschaften im Fokus, sondern der Aufbau von Massenbewegungen, die das gesamte gesellschaftliche System grundlegend ändern sollten, in erster Linie eine militante Gewerkschaftsbewegung. Manche anarchistische Theoretiker*innen, die sich in dieser Tradition sehen, setzen den Anarchismus überhaupt mit dem Syndikalismus gleich. Dieser entstand Ende des 19. Jahrhunderts als Bewegung von „Arbeiterbörsen“, wie sie damals hießen, geleitet von Arbeiter*innen selbst auf der Basis direktdemokratischer und föderaler Prinzipien. Direkte Aktion (vor allem Streiks) war die bevorzugte Taktik, der libertäre Sozialismus das Ziel. Kampf um höhere Löhne und bessere Lebensbedingungen war nicht Selbstzweck, sondern Mittel, um die kapitalistischen Produktionsverhältnisse zu überwinden. Anfang des 20. Jahrhunderts zählten die Industrial Workers of the World (IWW) in den USA ebenso die Freie Arbeiter-Union Deutschlands (FAUD) zu den syndikalistischen Massengewerkschaften; beide Organisationen hatten rund 150.000 Mitglieder. In Spanien hatte die bekannteste aller syndikalistischen Organisationen, die Confederación Nacional del Trabajo (CNT), in den 1930er Jahren 700.000 Mitglieder.
 


Die CNT war eine wesentliche Kraft im historisch bedeutendsten Versuch, eine anarchistische Gesellschaft aufzubauen. Im Zuge des Spanischen Bürgerkriegs, in dem 1936 republikanische Truppen, darunter Anarchist*innen, gegen die faschistischen Militärs kämpften, wurden Ländereien in Katalonien und Andalusien vergesellschaftet und nach anarchistischen Prinzipien verwaltet. Industrie und Landwirtschaft wurden kollektiviert, und Arbeiterselbstverwaltung eingeführt. Berichte aus jener Zeit erzählen von radikalem Wandel und euphorischer Stimmung. Doch der von Hans Magnus Enzensberger beschriebene „Kurze Sommer der Anarchie“ wurde vom Faschismus zerschlagen.
Auch Teile der Ukraine waren einst anarchistisch geprägt, im Südosten, dort, wo heute der Krieg tobt. Nach Ende des Ersten Weltkriegs nutzte die anarchistische Bauernarmee der Machnowschtschina das Machtvakuum, um Eigentum umzuverteilen und ein Rätesystem aufzubauen. Doch letzten Endes wurden die Machnowschtschina zwischen den „Roten“ und „Weißen“ im Russischen Bürgerkrieg sowie ausländischen Mächten aufgerieben.
Zehn Jahre später kam es in der Mandschurei unter ähnlichen Umständen zu einer „anarchistischen Republik“ in der Präfektur Shinmin. Zwei Jahre lang konnten koreanische Anarchist*innen das Gebiet gegen japanische und chinesische Truppen verteidigen, bevor die militärische Übermacht zu groß wurde.
Auch die Bayerische Räterepublik 1919 wird manchmal als Beispiel für eine anarchistische Gesellschaft genannt, doch das lässt sich so nicht sagen. Es stimmt, dass mit Gustav Landauer und Erich Mühsam zwei prominente deutsche Anarchisten führende Persönlichkeiten in der Räterepublik waren, doch getragen wurde sie von sozialdemokratischen und kommunistischen Kräften. Außer Landauer und Mühsam waren nur wenige Anarchist*innen involviert, und die Räterepublik hatte nur beschränkt anarchistischen Charakter.
 

...die Aufgabe von Experimenten ist es nicht zwangsläufig, Modelle zu liefern. Sie erlauben es, Sachen auszuprobieren, weiterzuentwickeln und irgendwann zu einem größeren Ganzen zusammenzufügen.


Kompliziert wird es, wenn wir uns den jüngsten Beispielen zuwenden, auf die Anarchist*innen gerne verweisen, wenn es um Beispiele für anarchistische Gesellschaften geht, nämlich die autonomen Verwaltungsgebiete der Zapatistas im mexikanischen Bundesstaat Chiapas und der Kurd*innen in Rojava (Nordsyrien). Es ist richtig, dass beide mit ihrer direkten Demokratie, ihrem Föderalismus und ihrem kooperativen Wirtschaften anarchistische Züge tragen; es stimmt auch, dass sich konkrete anarchistische Einflüsse verfolgen lassen, in Rojava die Schriften des US-amerikanischen Anarchisten Murray Bookchins und in Chiapas ein anarchistisch angehauchter „Indigenismus“ (politische Vorstellungen, die von den Erfahrungen indigener Gesellschaften ausgehen). Allerdings: Die Menschen vor Ort verwenden den Begriff des Anarchismus für ihre Gesellschaftssysteme nicht.
Bei allen Beispielen – historischen wie gegenwärtigen – fällt auf, dass sie in Zusammenhang mit kriegerischen Auseinandersetzungen stehen. Das ist nicht verwunderlich. Zu Revolutionen kommt es in der Regel, wenn die Machthabenden unter Druck gesetzt werden, intern wie extern. Doch was in Ausnahmesituationen geschaffen wird, kann nicht immer die neue Normalität überleben. Das galt für die meisten anarchistischen Gesellschaften. Trotzdem zeigten sie, dass ein Zusammenleben auf der Basis anarchistischer Prinzipien auch auf breiter gesellschaftlicher Ebene kein Ding der Unmöglichkeit ist. Die Selbstverwaltung der Zapatistas besteht immerhin schon seit 27 Jahren.
Im kleinerem Rahmen zeigen das auch anarchistische Kommunen, Schulen und Genossenschaften. Allerdings können Kommunen, Schulen und Genossenschaften niemals als Modell für hochkomplexe Massengesellschaften dienen. Hier stellen sich Herausforderungen, um die sich anarchistische Kleinexperimente nicht zu kümmern brauchen: Wer stellt sicher, dass die Züge fahren, Kranke operiert werden und der Atommüll entsorgt wird? Aber die Aufgabe von Experimenten ist es nicht zwangsläufig, Modelle zu liefern. Sie erlauben es, Sachen auszuprobieren, weiterzuentwickeln und irgendwann zu einem größeren Ganzen zusammenzufügen.
Es ist einfach, sich über den mangelnden praktischen Erfolg des Anarchismus lustig zu machen, doch es ist auch kurzsichtig. Neue Gesellschaftssysteme etablieren sich nicht in 150 Jahren, sie brauchen Jahrhunderte. Bereits die italienischen Stadtstaaten trugen protokapitalistische Züge, doch als hegemoniales Gesellschaftssystem konnte sich der Kapitalismus erst im Zuge der Industrialisierung im 18. Jahrhundert etablieren. Der anarchistische Erfahrungsschatz ist reich genug, um noch einiges erwarten zu können.