Sergio Mattarella & Mario Draghi
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Politica | Regierungsbildung

Wenn Gegner zu Verbündeten werden

Dem beauftragten Premier Mario Draghi scheint ein Wunder zu gelingen: eine oft angepeilte, aber nie gelungene Regierung der nationalen Einheit

Man kann das, was in diesen Tagen in Rom passiert, durchaus als politische Revolution werten – in mehrfachem Sinn. Die Fünf-Sterne-Bewegung beteiligt sich unter der Regie ihres  noch ungewissen Vorsitzenden Giuseppe Conte an einer Regierung unter der Führung von Mario Draghi, den sie über Jahre als servitore dell'alta finanza gebrandmarkt hatte. Und M5S-Gründer Beppe Grillo nimmt sogar an den Konsultationen teil. Bleibt nur noch das Ergebnis der Abstimmung auf der digitalen Plattform Rousseau abzuwarten, zu der die Mitglieder der Bewegung aufgerufen sind. Lehnen sie ab, kippt das Kartenhaus. Alessandro Di Battista: "Non mi inchino al 13mo apostolo."

Zwei verfeindete Parteien wie die Lega und der Partito Democratico unterstützen ebenfalls Draghis neues Kabinett, an dem sich auch Berlusconis Forza Italia beteiligt. Ein Ministerrat, dem Grillini, Lega und Liberi e Uguali angehören, galt bisher schlichtweg als unvorstellbar. PD-Chef Zingaretti: "Difficile un governo con tutti dentro." Doch Draghi hat mit Nachdruck an der Beseitigung der unvermeidlichen und bereits erklärten veti incrociati gearbeitet. Liberi e Uguali: "Mai con la Lega". M5S: "Mai con Lega e Renzi". Salvini: "Mai con Grillo." Fratelli d'Italia: "Mai con PD e Renzi."

Das Veto kann zusätzlich umgangen werden, indem man auf parteilose Experten zurückgreift. Etwa auf angesehene Finanzexperten wie Lucrezia Reichlin und Carlo Cottarelli, auf den langjährigen ISTAT-Präsidenten Enrico Giovannini als Arbeitsminister, die ehemalige Präsidentin des Verfassungsgerichts Marta Cartabia als Justizministerin, die Farnesina-Generalsekretärin Elisabetta Belloni als Aussenministerin. Dazu kommen die Parteienvertreter. Im Gespräch sind Matteo Salvini für die Lega, Antonio Tajani für Forza Italia, Roberto Gualtieri für den Partito Democratico. Es kann angenommen werden, dass sich Draghi selbst um die wichtigste Agenda kümmert: die Verteilung des Recovery Fonds der EU in Rekordhöhe von 209 Milliarden Euro. Brüssel hat bereits klargestellt, dass man nur mit einer einzigen Person verhandeln will. Vor diesem Hintergrund drängt Staatspräsident Mattarella diskret auf rasche Einigung.

Wenn die Anzeichen nicht trügen, hat Draghi im Handumdrehen ein politisches Wunder vollbracht: das oft herbeigeredete und niemals verwirklichte governo di unità  nazionale scheint Realität - trotz erheblicher Bauchschmerzen im Partito Democratico und im M5S. Kommentar des Corriere: Quanti rospi da baciare.  Lega-Vizechef Giancarlo Giorgetti ist ein politisches  Husarenstück gelungen:  die  Rechtspartei in Richtung politische Mitte zu schieben. Sein nächstes Ziel: die Lega im EU-Parlament aus dem Bündnis mit Le Pen zu lösen und in die Fraktion der Volksparteien zu führen.

 

 

 

Mario Draghi gehörte zu den zentralen Entscheidungsträgern in der Finanz- und Eurokrise. Er war als Chef der Europäischen Zentralbank einer der mächtigsten Menschen weltweit und somit auch Ziel zahlreicher Lobbyaktivitäten. Es ist beschämend, wie kritiklos nun die politische Elite, aber auch die Medien ihn zum Messias erkoren haben. Salvini und Renzi outen sich als Opportunisten par exzellence und gehören sprichwörtlich in die tiefste Schublade. Als Generaldirektor des italienischen Finanzministeriums war Draghi in den Neunzigerjahren maßgeblich an den umfangreichen Privatisierungen in Italien beteiligt. Danach heuerte er bei der Investmentbank Goldman Sachs an, anschließend war er fünf Jahr lang Chef der italienischen Zentralbank. Von dort gelang ihm der Sprung an die Spitze der EZB, die er von 2011 bis 2019 führte. Draghi mag kurzfristig nützlich sein – aber langfristig gefährlich. Was wir brauchen, sind radikales Umdenken: Steuergerechtigkeit, zurück zu einer echten sozialen Marktwirtschaft, Mindestlöhne, gerechte Entlohnung, ein Gesundheits- und Bildungswesen , das nicht ökonomischen Gesetzmäßigkeiten unterliegt, sondern dem Wohl der Menschen. Die Ökonomisierung von immer mehr Lebensbereichen in den vergangenen Jahrzehnten war ein Irrweg und das muss die Politik endlich zugeben. In der Corona-Krise zeigen sich vor allem die existenzbedrohenden sozialen Folgen, die diese zunehmende Ökonomisierung mit sich gebracht hat. Was wir brauchen, ist eine sozial-ökologische Transformation. Sollte das Draghi schaffen, dann müsste aus dem Saulus ein Paulus geworden sein.

Mar, 02/09/2021 - 21:20 Collegamento permanente