Es ist eine erhellende und äusserst ernüchternde Geschichte. Erhellend, weil sie über den prekären Zustand der Republik mehr aussagt als Dutzende wissenschaftlicher Analysen. Ernüchternd, weil sie Hoffnungen auf Veränderung ad absurdum führt. Der konkrete Anlass liegt wenige Tage zurück: der 33-jährige Stefano Leo aus Biella wurde vor zwei Wochen von einem Unbekannten am Lungo Po Macchiavelli in Turin mit einem Messerstich in den Hals getötet. Der Mord blieb zunächst rätselhaft, bis der Täter sich stellte und ein Geständnis ablegte. Der 27-jährige Marokkaner Said Mechaouat nannte dabei ein surreales Tatmotiv: "Ho scelto di ammazzare lui perchè mi pareva troppo felice e io non potevo sopportare la felicità. Volevo uccidere un ragazzo come me, togliergli tutte le promesse che aveva." Zur Absurdität dieses Mordes und seiner Hintergründe haben sich in den Medien Soziologen und Psychologen ausgiebig geäussert. Doch erst jetzt wurde bekannt, dass der Marokkaner von seiner ehemaligen Freundin wegen anhaltender Misshandlungen angezeigt und im Mai 2018 zu eineinhalb Jahren Gefängnis verurteilt worden war.
Die Anzeige war 2015 erfolgt, das Urteil war rechtskräftig. Warum also befand sich der Marokkaner nicht in Haft und konnte ungestört einen ihm fremden Passanten umbringen? Die Antwort ist entwaffnend: weil die Übermittlung des Urteils an die Staatsanwaltschaft mit erheblicher Verspätung erfolgte und diese daher den Haftbefehl nicht ausstellen konnte. Die Hintergründe freilich könnten ernüchternder kaum sein. Der Präsident des Berufungsgerichts in Turin, Edoardo Barelli, entschuldigte sich bei den Angehörigen: "Come rappresentante dello stato mi sento di chiedere scusa alla famiglia di Stefano Leo. Ho anch'io ho un figlio e, fosse successo a me, anch'io sarei mortificato". Die Wiederholung einer solchen Tat aber wollte er keineswegs ausschliessen: La massa di lavoro è tale che con le attuali forze non posso garantire che quello che è successo non possa capitare di nuovo."
Die entsprechenden Daten scheinen in den Statistiken des Justizministeriums nicht auf. Die nicht aufgearbeiteten und an die Staatsanwaltschaft nicht weitergeleiteten Akten belaufen sich nach Schätzungen in Turin auf fast 10.000. In Rom und Neapel sind es über 20.000, in Mailand ungefähr 1500. Italienweit fehlen rund 10.000 Gerichtssekretäre. In Brescia sind 2500 Urteile nie vollstreckt worden, in Venedig 2000. Urteile unter drei Jahren Haft werden in vielen Gerichten "ignoriert". Dabei ist die Zahl der Häftlinge mit rund 60.000 in Italien geringer als in vergleichbaren EU-Ländern. "I condannati ancora a spasso sono migliaia", warnt Il Fatto quotidiano. Der Kommentar des römischen Oberstaatsanwalts Giuseppe Pignatone: "Siamo con l'acqua alla gola." Der Corriere della sera zur empörenden Justiz-Misere: "In Italia i "graziati" da sentenze non eseguite sono 50.000."