Politica | Wichtigste Wahl 2023

Wahlen in der Türkei

Türkische Staatsbürger*innen in Italien haben bereits gewählt. Die hohe Beteiligung spricht für den Wunsch nach Veränderung.
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Foto: Georg Zeller

Die Schlange wartender Menschen nördlich des Sempioneparks in Mailand zieht sich um drei Häuserblocks. Es sind viele Hunderte, die bis zu sechs Stunden in den ersten heißen Frühlingstagen hier ausharren. Die Stimmung ist dafür erstaunlich gelassen und entspannt. Die Insassen eines kleinen Polizeibusses betrachten von der gegenüberliegenden Straßenseite aus gelangweilt das Geschehen, eine Handvoll schwer bewaffneter Soldaten steht wie auch an gewöhnlichen Tagen vor der Tür des Türkischen Honorarkonsulats.

Die Menschen in der nur sehr langsam sich bewegenden Schlange warten darauf, ihre Stimmen zur Parlaments- und Präsidentschaftswahl in der Türkei abgeben zu dürfen. Zirka die Hälfte der knapp über 20.000 in Italien gemeldeten türkischen Staatsbürger*innen leben in Norditalien und damit im Einzugsgebiet des Honorarkonsulats in Mailand und dürfen hier von 3.-7. Mai wählen. Darunter auch die rund 380 türkischen Staatsbürger*innen aus Südtirol.

Dass es sich um eine besondere Wahl handelt - laut des “Economist” “die weltweit wichtigste Wahl 2023” -  lässt sich nicht allein an der schieren Zahl der Menschen erkennen, die bereit sind, sich von Arbeit oder Studium frei zu nehmen, auf eigene Kosten nach Mailand zu reisen und dort schließlich stundenlang in der Sonne auszuharren, bevor sie endlich ihren staatsbürgerlichen Wahlakt ausführen dürfen. Viele die hier stehen, sehen wohl erstmals in ihrem Leben eine Chance, durch ihre beiden Kreuze auf dem Wahlzettel die Zukunft ihres Heimatlandes umzugestalten.

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan regiert das Land seit nunmehr zwanzig Jahren. In deren Verlauf nahm er immer mehr Machtbefugnisse an sich. Vertrat er anfangs selbst glaubhaft die Hoffnung auf eine neue Türkei, wurde sein Regierungsstil über die Jahre hinweg zunehmend autoritärer, undemokratischer und allein vom Machterhalt besessen. Korruption und Vetternwirtschaft, Machtmissbrauch gegenüber politischen Gegner*innen, Journalist*innen, aber auch einfachen Menschen, die beispielsweise für angebliche “Verunglimpfungen des Präsidenten” im Gefängnis landen, waren nicht genug - wohl auch dank seiner weitreichenden Kontrolle der Presse im Land und einer zerstrittenen Opposition - um bei den letzten Wahlen vor fünf und acht Jahren seinen Machtanspruch ernsthaft zu gefährden.

Dieses Jahr sieht das Bild anders aus: Die Türkei befindet sich in einem wirtschaftlichen Desaster, das auch Erdoğans Stammwählerschaft in Form von Inflation und hohen Preisen schmerzlich zu spüren bekommt. Erschwerend hinzu kam Anfang diesen Jahres das verheerend schlechte und korruptionsbelastete Notfallmanagement der Regierung während des Erdbebens im Süden der Türkei, bei dem rund 45.000 Menschen ums Leben kamen.

Auf der anderen Seite haben die Oppositionsparteien eines breiten politischen Spektrums es endlich für diese Wahl geschafft, ihre Schatten und Eitelkeiten teilweise hintanzustellen und gemeinsam das über allem stehende Ziel eines Machtwechsels anzustreben. Sechs Gruppierungen von Sozialdemokraten bis hin zu säkulären Nationalisten unterstützen Kemal Kılıçdaroğlu, der in der Vergangenheit bereits mehrmals erfolglos als Präsidentschaftskandidat der kemalistisch-sozialdemokratischen CHP angetreten war.

Es ist Mittag in Mailand und der findige Besitzer der Pizzeria “Slice” gleich hinter dem Konsulatsgebäude nutzt die Gunst der Stunde und bietet am Rande der Schlange warm duftende Pizzaschnitten und kühle Getränke an. Viele der Wartenden haben aber selbst vorgesorgt und teilen sich belegte Brote und Süßigkeiten, einige haben ein Buch dabei, manch einer sogar einen Klappstuhl um die Wartezeit zu verkürzen. Sie nehmen es mit Humor und bestärken sich gegenseitig in der Sinnhaftigkeit hier einen Tag zu verbringen. Eine Wählerin, die auch schon 2018 in Mailand wählte, ist hingegen unvorbereitet auf das lange Warten. Damals habe sie direkt ins Wahlbüro laufen können und sei nach 5 Minuten wieder draußen gewesen.

Am vorderen Ende der Schlange zeigt sich nun der Honorarkonsul persönlich. Im blauen Zweiteiler, hellblauen Hemd und Lackschuhen geht er die Menschenschlange entlang und heißt die Wählerinnen und Wähler per Handschlag willkommen. Er nennt es eine große Ehre, so viele aktive Staatsbürger*innen hier begrüßen zu dürfen und erzählt, dass in den letzten Monaten sein Konsulat immer wieder an seine Grenzen stieß, einmal aufgrund der zahlreichen Hilfsleistungen für die Erdbebenopfer, die über ihn abgewickelt wurden, aber auch, weil viele in Italien lebende Türkinnen und Türken sich im Wahlregister für Auslandtürken anmeldeten, um an den fünf Wahltagen im Mai ihre Stimmen abgeben zu dürfen.

Die meisten der in der Schlange Wartenden sind junge Frauen und Männer, die offensichtlich zum Studium oder zur Arbeit nach Italien gekommen sind. Menschen, die in ihrer Heimat momentan keine Zukunft sehen, die sich nach Demokratie und Freiheit sehnen, und deren Familien es sich leisten können, trotz Krise und Inflation ein Leben im europäischen Ausland zu finanzieren. Sie gehören wohl eher nicht zur Stammwählerschaft des regierenden Präsidenten.

Während das Konsulatspersonal Trinkwasser an die Wartenden verteilt, wird es am Eingang des Gebäudes am Nachmittag doch plötzlich laut. Eine kleine Gruppe von Personen tritt demonstrativ in Familienformation auf: Mann, Frau, großes Kind und Kinderwagen mit Baby. Sie versuchen lautstark, die Menschenschlange zu umgehen und direkt ins Wahllokal zu dürfen. Ein Wahlbeobachter der oppositionellen CHP, der bereits den ganzen Tag unter dem Schatten eines Baumes die Geschehnisse beobachtet, sagt, es gäbe zu diesem Zweck bereits WhatsApp-Gruppen, in denen Säuglinge zum Verleih angeboten würden, um den konservativen Wähler*innen in Mailand den Gang zu Wahl schmackhafter zu machen. Doch die Konsulatsbeamten beharren auf ihren gesetzliche Vorgaben und sagen, es sei kein gesonderter Zugang für Familien mit Kindern vorgesehen, nur für Kranke und Schwangere. Vom lauten Hin- und Her aufmerksam gemacht, stehen nun plötzlich auch zwei DIGOS-Beamten in zivil und zwei Polizisten zwischen den Wartenden, ihren Einsatz braucht es letztendlich aber nicht.

Bleibt zu hoffen, dass es auch beim Wahltermin in der Türkei am 14. Mai nicht zu laut wird. Die Opposition gibt sich inzwischen so siegessicher, dass sie davor warnt am Wahlabend zum Feiern aus dem Haus zu gehen, um so der Regierung keinen Vorwand zu liefern, die möglicherweise verlorene Wahl in Zweifel zu ziehen.